Die islamische Theologie faßt das islamische Recht (die Sharia) als ein gottgegebenes, vollkommenes Gesetz auf, das nicht von Menschen gemacht und daher nicht hinterfragbar ist. Die Sharia brächte – so die muslimische Apologetik – wenn sie auf der ganzen Welt zur Anwendung käme, allen Menschen Frieden und Gerechtigkeit. Dem Propheten Muhammad wurden die Gebote Gottes durch den Engel Gabriel übermittelt und im Koran und den islamischen Überlieferungstexten niedergelegt. Ausgelegt wurden diese rechtsrelevanten Texte von namhaften Theologen, maßgeblich vor allem den Juristen der ersten islamischen Jahrhunderte.
Zur Sharia gehört die Gesamtheit des islamischen Gesetzes: Gebote, die die Religionsausübung betreffen (wie die täglichen rituellen Gebete, das Fasten im Ramadan, die Wallfahrt nach Mekka, der Ablauf der religiösen Feiertage u.a.m.), die Erb-, Ehe- und Familiengesetze, das Vermögensrecht, das Strafrecht und die Gesetze zu den religiösen Stiftungen. Die Sharia regelt also die Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott, zu seiner Familie und Umwelt.
Die Sharia hat ihren Schwerpunkt eindeutig im Familien- und Erbrecht. Mit wenigen Ausnahmen ist die Sharia in allen islamischen Ländern, aber auch in Teilen von Afrika und Südostasien eine wesentliche oder sogar die einzige Grundlage des Familienrechts und damit der Rechtsprechung in Zivilprozessen. Nur in der Türkei wurde das Ehe- und Familienrecht im Zuge der Ablösung des Osmanischen Reiches durch die Türkische Republik unter Kemal Atatürk 1926 am Schweizerischen Zivilgesetzbuch ausgerichtet und die Sharia als Gesetzesgrundlage ganz und gar abgeschafft. (Dennoch blieben gewisse Parallelstrukturen wie die Möglichkeit zu der nach türkischem Recht prinzipiell verbotenen Mehrehe im ländlichen Bereich bestehen. In regelmäßigen Abständen werden Kinder aus diesen „Imam“-Ehen für ehelich erklärt und die Ehen selbst nachträglich staatlich sanktioniert.)
Die Sharia ist immer ein idealtypisches Gesetz geblieben, das zu keiner Zeit zur vollständigen Anwendung kam. Auch wenn einzelne Staaten heute die „Rückkehr zur Sharia“ proklamieren, ist damit vor allem eine verschärfte Ausrichtung am koranischen Ehe- und Familienrecht gemeint. In den meisten islamischen Ländern kommt heute ein Rechtsgefüge zur Anwendung, das eine Mischung darstellt aus koranischen Geboten, Elementen der islamischen Überlieferung, dem Gewohnheitsrecht, vorislamischen persischen, römischen oder sassanidischen Rechtselementen und Elementen europäischer Rechtsbestimmungen aus der Kolonialzeit. In den ersten Jahrhunderten nach Muhammads Tod, in denen aus den relativ wenigen, von ihm in seiner ersten islamischen Gemeinde entschiedenen und in Koran und Überlieferungstexten festgehaltenen Fällen in dem sich rasch ausdehnenden islamischen Reich eine funktionierende Rechtsprechung nach islamischen Vorgaben entwickelt werden mußte, bildeten sich aus juristischen Gelehrtenzirkeln Rechtsschulen heraus, von deren Vielzahl sich im sunnitischen Bereich vier behaupten konnten: Die schafiitische, hanbalitische, hanafitische und malikitische Rechtsschule. Diese vier Rechtsschulen stimmen in den Grundzügen des islamischen Strafrechts überein, so wie es für den heutigen orthodoxen sunnitischen Islam maßgeblich ist:
Was das Strafrecht betrifft, so findet man wohl am häufigsten eine Einteilung aller Straftaten in drei Kategorien, die sich hinsichtlich des Strafmaßes und der Feststellung der Schuld stark voneinander unterscheiden: Grenzstrafen, Ermessensstrafen und Strafen mit Wiedervergeltung.
Zu den gravierendsten Vergehen, den sog. „Grenzstrafen“ (arab. hadd-Strafen) werden diejenigen Verbrechen gezählt, die der Koran oder die Überlieferung als Kapitalverbrechen benennen und mit konkretem Strafmaß belegen. Die hadd-Vergehen verletzen nach islamischer Auffassung nicht menschliches Recht, sondern das Recht Gottes. Ein Verfahren darf daher, wenn es wegen dieser Vergehen einmal in Gang gesetzt wurde, nicht wieder fallengelassen und keine gütliche außergerichtliche Einigung erzielt werden, bis der Schuldige bestraft ist. Die hadd-Vergehen sind im einzelnen:
- Ehebruch und Unzucht: Sure 24,2-3 fordert 100 Peitschenhiebe für Mann und Frau. Im islamischen Recht hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß Unverheiratete ausgepeitscht werden sollen, Verheiratete aber durch Steinigung getötet, da die islamische Überlieferung die Steinigung fordert. Der Koran warnt ausdrücklich vor Mitleid mit den Tätern. Allerdings sind zur Feststellung der Schuldigkeit vier (in der Regel: männliche) Augenzeugen oder ein Geständnis erforderlich. Ein Indizienprozess ist unüblich und reicht eigentlich für eine Verurteilung nicht aus (strittig ist, ob eine Schwangerschaft wie einiger im Jahr 2003 in Nigeria bzw. Sudan angeklagten ledigen Mütter zur Verurteilung ausreicht). Verhängnisvoll wirkt sich die Bedingung der vier männlichen Augenzeugen in Ländern wie Pakistan aus, die es einer Frau unmöglich macht, eine Vergewaltigung anzuzeigen, da vier Zeugen wohl nie beigebracht werden können. Nicht wenige Frauen – meist der unterprivilegierten christlichen Minderheit, die sich rechtlich kaum wehren kann – wurden nach einer entsprechenden Anzeige wegen „Verleumdung von Ehebruch“ (s. unter 2.) nun ihrerseits angeklagt und mit Auspeitschung bestraft.
- Verleumdung wegen Ehebruch: Sure 24,4 fordert 80 Hiebe für die Schuldigen.
- Schwerer Diebstahl erfordert nach Sure 5,33+38 die Amputation der rechten Hand und im Wiederholungsfall des linken Fußes. Islamische Juristen haben zwar bestimmte „Anforderungen“ formuliert, die erfüllt sein müssen, um den Diebstahl zu einem „echten“ Diebstahl zu machen (ein gewisser Wert des gestohlenen Gutes, dessen ordnungsgemäße Verwahrung, geklärte Besitzverhältnisse u. a.). Eine Gliederamputation hilft jedoch dem Bestohlenen in keiner Weise, macht jedoch den Schuldigen zum Krüppel, der – in der Regel erwerbsunfähig – in Zukunft auf die Fürsorge der Gesellschaft angewiesen sein wird.
- Schwerer Straßen- und Raubmord: Je nach Schwere der Tat soll er mit Gefängnis, Amputation, Hinrichtung oder Kreuzigung bestraft werden.
- Alkoholgenuss: Der Koran formuliert kein konkretes Strafmaß, die Überlieferung fordert jedoch 40–80 Peitschenhiebe für denjenigen, der berauschende Getränke genießt.
Die Überlieferung fügt diesen wenigen Verbrechen weitere Vergehen wie Vergewaltigung und Homosexualität hinzu.
Alle hadd-Vergehen fordern zwei (in der Regel: männliche) Augenzeugen, Ehebruch sogar vier. Ein Geständnis darf jederzeit zurückgezogen werden. Die Verjährungsfristen sind sehr kurz. In den allermeisten Fällen werden jedoch – gerade im Falle von Ehebruch – aufgrund der großen „Schande“ diese hadd-Vergehen nicht, wie es zur Schuldfeststellung und Bestrafung eigentlich erforderlich wäre, vor Gericht verhandelt, sondern familiär bestraft und geahndet werden.
Weitere Vergehen, die im Koran und der Überlieferung behandelt werden, fallen unter die Verbrechen mit Wiedervergeltung (arab. qisas-Vergehen), die eine Wiedergutmachung durch den Täter bzw. die Familie des Täters erfordern. Das wohl wichtigste Vergehen dieser Kategorie dürften die Körperverletzung bzw. der Totschlag sein, der Angriff auf eine Person mit unbeabsichtigter Todesfolge. In diesem Fall darf die Familie des Opfers dem Täter eine gleich schwere Verwundung zufügen (ein Auge für ein Auge, ein Zahn für ein Zahn) bzw. ein Familienmitglied von gleichem „Stellenwert“ töten, sofern Gleichheit zwischen Opfer und Täter hergestellt werden kann (ein Mann für einen Mann, eine Sklavin für eine Sklavin usw.). Die Familie des Opfers kann auch gegen die Zahlung eines Blutpreises auf die Tötung des Schuldigen verzichten. Außerdem muß eine religiöse Buße (wie z. B. ein zusätzliches Fasten) geleistet werden.
Die weitaus meisten Vergehen fallen unter die dritte Kategorie, die Verbrechen, die nach dem Ermesssen des Richters bestraft werden (ta‘zir-Vergehen). Da unter die Grenz- und Wiedervergeltungsverbrechen so wenige Vergehen fallen, bleibt eine große Zahl als Ermessensstrafen übrig (Betrug, Erpressung, Urkundenfälschung usw.).
Das islamische Strafrecht hat seinen Ursprung in der auf einige spezifische Vorkommnisse zugeschnittenen und daher auf Einzelfälle beschränkten Rechtsprechung der frühislamischen Gemeinde Muhammads auf der Arabischen Halbinsel im 7. Jh. n. Chr. Es ist allerdings nicht nur kaum mit den komplexen Verhältnissen eines modernen technisierten Zeitalters kompatibel, in dem es von vielen Theologen nach wie vor als gottgegebenes, nicht hinterfragbares vollkommenes System aufgefaßt wird. Bei voller Anwendung der drastischen Körperstrafen (Amputationen, Auspeitschungen, Hinrichtungen, Kreuzigungen, Wiedervergeltung) werden Menschen gefoltert, verstümmelt oder kommen auf qualvolle Weise zu Tode. Besonders verhängnisvoll wirkt sich die Sharia heute dort aus, wo die einschränkenden Bestimmungen (wie z. B. die Erfordernis von vier Zeugen oder ein ordentliches Gerichtsverfahren) außer acht gelassen und einflußreiche Machthaber die Sharia zur Unterdrückung von Angehörigen einer einflußlosen – meist christlichen – Minderheit benutzen.