Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben die deutsche Politik in den Sog eines globalen Geschehens hineingezogen, das sich auch auf das Verhältnis zu den in Deutschland lebenden Muslimen auswirkt.
So schrecklich der Anlass ist, diese schlagartige Veränderung im Weltgefüge bietet auch neue Chancen. Es ist dringend geboten, festgefahrene Positionen grundsätzlich zu überdenken, will man nicht die vorhandenen Gräben vertiefen oder gar weitere aufreißen.
Deshalb muss jenen Muslimen, die unsere Verfassung und unsere Gesetze achten und die konstruktiver Teil unserer Gesellschaft sind oder sein möchten, jedwede Unterstützung für eine Gleichberechtigung und Gleichbehandlung auf allen Ebenen zukommen. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, jenen ganz klar ihre Grenzen zu zeigen, die die von der Verfassung garantierten Freiheiten für eigene Machtinteressen missbrauchen wollen, statt unsere Gesellschaftsordnung auch für sich selbst zu akzeptieren.
Überblick der Organisationen
Die Aufhebung des Religionsprivilegs für Vereine im November 2001 und die öffentliche Einordnung der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüsch (IGMG) als verfassungsfeindlicher Organisation durch Innenminister Schily sind wichtige Schritte in die richtige Richtung. Offenbar reichen aber solche Einschnitte noch nicht aus, um auch der Islamischen Föderation Berlin (IFB) wegen ihrer IGMG-Nähe das Vertrauen zu entziehen. Der Islamrat der Bundesrepublik Deutschland, der immer noch keine ordentliche Satzung hat und von der IGMG dominiert wird, behauptet in einer im Internet unter www.islamrat.de abrufbaren Presseerklärung vom 7.11.2001, eine Million Muslime zu vertreten, de facto also die Hälfte der Türken oder ein Drittel aller Muslime in Deutschland. Das ist natürlich ein Unding: Mit der selben Zahl operiert der ehemalige Vorsitzende der IGMG, während der Verfassungsschutz 27.000 Mitglieder – allerdings ohne den Multiplikator Familie – für das Jahr 2000 angibt. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland, der in Gestalt seines Vorsitzenden Dr. Nadeem Elyas gegenwärtig Omnipräsenz demonstriert, dürfte zahlenmäßig nicht einmal 2% der hiesigen Muslime vertreten; unter seinem Dach finden sich im übrigen nicht von ungefähr etliche Muslimbruder-Zentren, man weiss, dass allein 9 Organisationen zu den Muslimbrüdern gehören. Der islamische Dachverband mit den tatsächlich meisten Moschee-Gemeinden ist DITIB, eine Dependance des semisäkularen türkischen Staates mit nationalen Interessen. Der ebenfalls rein türkische Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) hat sich im Jahre 2000 aus dem Zentralrat und aus dem bis dahin gepflegten Dialog-Geschehen zurückgezogen und nach außen abgeschottet.
Angesichts dieser Situation wird deutlich, dass keine der vorhandenen islamischen und islamistischen Organisationen für die Gesamtheit der hiesigen Muslime sprechen kann, ja nicht einmal für deren Mehrheit. Weitere Komponenten, die zu einer solchen Beurteilung führen, sind nicht weniger aufschlussreich. Nachdem der Begriff „islamistisch“ bei den Diskussionen anlässlich des 11. Septembers verschiedentlich gleichgesetzt wurde mit „militant“ und „terroristisch“, muss geklärt werden, dass bislang unter „Islamismus“ zumeist der islamische Fundamentalismus mit politischer Ausrichtung verstanden wurde. Tatsächlich ist er nicht eo ipso militant, bereitet aber dafür den Nährboden.
Der Islam hat sich in seiner langen Geschichte überwiegend als friedfertige Religion gezeigt. Der Koran bietet aber aufgrund seiner Entstehungsgeschichte, die von kriegerischen Auseinandersetzungen begleitet war, durchaus Bestandteile, die – aus ihrem historischen Kontext gelöst – mannigfach instrumentalisiert werden können.
Die entsprechenden Koranverse lassen sich von militanten Islamisten und Terroristen indoktrinierend nutzen, ebenso wie die für die Märtyrer zu erwartenden Paradiesesfreuden zur religiösen Sinngebung des Lebens für idealistische, junge, verführte Menschen werden können. Diese eine Ausrichtung in dem facettenreichen Islam zerstört das friedfertige Image dieser Weltreligion mit einer Milliarde Anhängern. Deshalb muss man auf diese Islamisten auch in den anderen Organisationen aufmerksamer denn je das Augenmerk richten, und zwar aus einer tiefen ethischen Verantwortung gegenüber den Menschen und unserem Staat, dessen Verfassung es zu schützen gilt.
Bildungsnotstand in Sachen Islam
Das gravierende Problem ist, dass vor und nach den Anschlägen bedeutende Persönlichkeiten unseres öffentlichen Lebens diese Beziehung nicht erkannt haben. Die längst bekannte Verfassungsfeindlichkeit der IGMG hat gar manche Politiker und Politikerinnen der CDU nicht davon abgeschreckt, bei deren Massenveranstaltungen Grußworte zu entrichten. Die SPD hat dem Imam der IGMG-Moschee in Hamburg, einem SPD-Mitglied, den Preis für Interkulturellen Dialog verliehen. Wenigstens die EKD müsste ihre Aufgaben ernst nehmen.
Doch im letzten Abschnitt ihrer Handreichung „Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland“ empfiehlt sie den Verkauf leerstehender Kirchen an Moschee-Vereine, die fast ausnahmslos den Dachverbänden angeschlossen sind, und öffnet ihrerseits dem konkurrierenden Islam bereitwillig ihre Tore, um ein Vakuum zu füllen, das sie in diesem Falle auch noch klaglos, ja mit dem wohligen Gefühl einer guten Tat hinterlässt; denn „es ist im Interesse der Gemeinde, dass Muslime angemessen untergebracht sind“ (S. 116f). Der Ratspräsident der EKD hielt in der Bonner Geschäftsstelle des IGMG-dominierten Islamrats eine erfreulich kritische Rede; doch trug er allein durch seine Präsenz in erheblichem Maße dazu bei, diese Organisation gesellschaftsfähig zu machen. In Hamburg durfte bei zwei interreligiösen Veranstaltungen 1999 und 2000 der Muezzin von der Kanzel der Christuskirche aus den Gebetsruf rufen, und in der Lukaskirche in München konnte bei einer Diskussionsveranstaltung der höchst umstrittene Dr. al-Khalifa vom Islamischen Zentrum München fordern, Deutschland müsse ein islamischer Staat werden. Dass der Gesundheitsminister der Taleban im Januar dieses Jahres im Gemeindesaal einer Kirche im Hamburger Stadtteil Schiffbek-Öjendorf „predigen“ durfte, ist nur einer der vielen Höhepunkte von Ahnungslosigkeit und völlig falsch verstandener Toleranz und der Beweis für einen eklatanten Bildungsnotstand in Sachen „Islamische Organisationen“ und „Islamisten“, den die EKD – wenn man ihre Personalpolitik in puncto „Islam“ betrachtet – auch gar nicht zu beheben wünscht.
Ein Nimbus umnebelt die Hamburger SCHURA, eine Muslim-Vertretung ohne die türkei-staatliche DITIB und ohne den Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), der seine Mitgliedschaft nach einem radikalen Kurswechsel suspendiert hat. Die Hamburger Moschee der IGMG habe sich von ihrer Zentrale abgekoppelt, zumindest wolle sie dies tun, heißt es bei bohrender Nachfrage. Sie sei von Anfang an dialogbereit und offen gewesen, verlautet es aus Kirchenkreisen.
Auch wenn die Vorstandswahlen der SCHURA eine multiethnische Vertretung suggerieren: ihre wichtigsten Positionen sind nach wie vor in der Hand der IGMG und des schiitischen Islamischen Zentrums Hamburg, das auch im Hamburger Verfassungsschutzbericht des Jahres 2000 wieder erwähnt wird. Besonders protestantische Vertreter verschiedener Institutionen glauben offenbar an das Wunder, dass in Hamburg die Uhren anders gehen als überall sonst, und unterstützen nachdrücklich die SCHURA.
Klares Bekenntnis zur Verfassung fehlt
Dass hierzulande die Scharia auch juristische Geltung erlangen möge, erhoffen die islamistischen Muslime, und sie arbeiten daran. Auf die hiesige Gesellschaft bezogen sagt der Zentralratsvorsitzende Dr. Nadeem Elyas vage:
„Von den Muslimen muss erwartet werden, dass sie sich deutlicher zu dieser Gesellschaft bekennen, sich aktiv an den gesellschaftlichen Prozessen beteiligen und mehr Anpassungsbereitschaft in allen Bereichen zeigen, die nicht religiös zwingend vorgeschrieben sind.“
Religiös zwingend vorgeschrieben sind aber außer den „fünf Säulen des Islam“, die ohnedies praktiziert werden können, seiner keinesfalls unumstrittenen Meinung zufolge unter anderem auch das Kopftuch und das betäubungslose Schlachten. Darüber hinaus fehlt ein klares Bekenntnis zu unserer Verfassung, was damit begründet wird, dass die Muslime diese nur zu respektieren hätten, weil sie hierzulande nun einmal in der Minderheit sind. Die Frage aber, was geschehen würde, wenn sie die Mehrheit hätten, bleibt unbeantwortet. Diese Problematik mag demographisch gesehen irrelevant erscheinen, ist aber für ein scharia-gebundenes Staatsverständnis alles andere als bloß hypothetisch.
Gefahr der Entwicklung einer Parallelgesellschaft oder „Integration über das Recht“
Wenn – gemäß einer Studie des Zentral-Instituts Islam-Archiv in Soest – heute noch knapp die Hälfte der hier lebenden Muslime das deutsche Grundgesetz, das ja die Menschenrechte inkorporiert hat, für unvereinbar mit dem Koran halten, kann man kaum erwarten, dass der Zentralrat die kompromisslose Akzeptanz dieses Grundgesetzes vermittelt. Also muss man sich überlegen, wie man den hiesigen „gefährdeten“ Muslimen gezielt die Werte unserer Demokratie vermittelt. Denn diese Menschen müssen anfällig sein für das Bemühen aller Organisationen – DITIB ausgenommen -, hier nach einem verklärten Vorbild des osmanischen Milletsystems eine Umma, eine islamische Gemeinschaft, mit einer Eigengerichtsbarkeit im Familien- und Erbrecht aufzubauen, getreu dem Grundsatz: „Ein Muslim muss nach der Scharia leben, wo immer er sich aufhält“. Nachdem schon ein unabhängiges Wirtschafts- und Bankensystem gut funktioniert, der Traum von einer eigenen Währung, dem Dinar, in einem Stadtviertel des spanischen Granada bereits realisiert worden sein soll und hierzulande jährliche Konferenzen muslimischer Rechtsanwälte abgehalten werden, wird man solche Entwicklungen zumindest beachten müssen.
Genauso wird zu beobachten sein, welche Konkretionen das zweifellos unter Muslimen der 2. und 3. Generation vorhandene Bewußtsein hervorbringen wird, dass der Islam im europäischen Umfeld einer grundsätzlichen „Integration über das Recht“ (so Tarik Ramadan: Muslimsein in Europa, Marburg 2001, S. 217) bedarf. Dazu können nur in Fatwas gefasste und in einem Korpus niedergelegte islamisch- juristische Bestimmungen zu jedem einzelnen Artikel der deutschen Verfassung und einzelner, religiös problematischer Gesetze verhelfen, die von allen Organisationen anerkannt worden sind. Dies allein kann die Grundlage sein, auf der sich eine sichere, von Missverständnissen und Vorurteilen freie Zukunft aufbauen lässt.
Bei der im Grunde sehr späten öffentlichen Auseinandersetzung mit den diversen islamischen Organisationen in Deutschland zeigt sich im übrigen, dass diese bereits Vorkehrungen treffen, um im Verbotsfalle unter anderen Vorzeichen – z.B. die IGMG als islamische Partei oder als Stiftung – neu firmieren zu können, eine Verfahrensweise, die sich in der Türkei und in manchen islamischen Staaten schon mannigfach bewährt hat.
Nun geht es zwar einerseits um die Einschätzung der hiesigen islamischen Organisationen, an denen die meisten hier lebenden Muslime gemessen werden. Zum anderen muss es aber insbesondere auch darum gehen, die Muslime vor Druck und Repressalien seitens der Organisationen zu bewahren. Des weiteren geht es um christliche Ethik, Glaubensfestigkeit und eindeutige Positionierungen angesichts der politischen, ethischen und religiösen Herausforderungen durch eine sehr andersartige Religion. Letztendlich aber geht es um den Schutz dieses Staates mitsamt seinen muslimischen Bürgern vor den partikularen Interessen von Sektierern, denen die Religion als bloßer Deckmantel ihrer wahren politischen Absichten dient. Das sind wir unserem Grundgesetz schuldig in Verantwortung vor Gott und den Menschen.
Prof. Dr. Ursula Spuler-Stegemann ist Lehrbeauftragte für Türkisch und Professorin für Religionsgeschichte an der Evangelischen Fakultät der Universität Marburg. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus: Evangelische Verantwortung, 2/2002, S. 1–4.