Die Sorge für die Armen hat im Koran einen hohen Stellenwert
B O N N (15. Oktober 2004) – In Sure 69,30-37 lesen wir über Menschen, die die Armenfürsorge versäumen, folgendes:
„(Den Höllenwärtern wird zugerufen:) „Greift ihn und fesselt ihn, und lasst ihn hierauf im Höllenbrand schmoren! […] Er hat (zu seinen Lebzeiten) nicht an den gewaltigen Gott geglaubt und (die Seinen?) nicht dazu angehalten, den Armen (etwas) zu geben. Hier hat er nun heute keinen Freund und bekommt nichts zu essen, außer Schmutzwasser (oder: Wundwasser?), eine Nahrung, die nur die Sünder (in der Hölle) zu sich nehmen.“
Diese Stelle aus dem Koran verdeutlicht sehr gut, wie wichtig die Sorge für die Armen – die pflichtgemäße wie die freiwillige Verrichtung der Almosensteuer – im Islam seit je her ist. Almosensteuer meint nicht ausschließlich, aber insbesondere Sorge für die Armen und Hilfsbedürftigen und gehört zu den Säulen des islamischen Glaubens. Ihre Missachtung, die auf einer Stufe mit dem verweigerten Glauben an den gewaltigen, islamischen Gott steht, wird Höllenstrafen nach sich ziehen. Der Koran sieht in der irdischen Armut keinen Fluch Gottes und in dem Reichtum keinen besonderen Segen für gute Werke. In Sure 53,48 wird Gott zwar als der beschrieben, „der reich macht und Besitz verleiht“, aber der inhaltliche Grundappell des Korans weist den Einzelnen vielmehr immer wieder auf seine Verantwortung im jüngsten Gericht hin. Diese Verantwortung liegt im richtigen Umgang mit den gegebenen Verhältnissen, ob derjenige nun arm oder reich ist. In bei dem kann er sich bewähren und in beidem kann er den Zorn Gottes auf sich ziehen.
Die Armenfürsorge wurde zudem stets als eines der Hauptmerkmale einer allerdings nicht wirklich umfassenden und allgemein gültigen islamischen Wirtschaftsordnung gesehen. Gelehrte bemühten sich in der islamischen Geschichte immer wieder, einen so genannten dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu finden, eine islamische Antwort zu geben auf die allgegenwärtige und als zutiefst demütigend empfundene Unterlegenheit gegenüber Europa und den Industrienationen. Die frühen Erfahrungen der Kolonialherrschaft sowie die spätere Abhängigkeit auf wirtschaftlichem und technologischem Gebiet führten letztlich zu einer stark religiös begründeten und legitimierten Wirtschaftsordnung, die zum einen Züge kapitalistischer Marktwirtschaft trägt, zum anderen spezielle islamische Rechtsbestimmungen und moralische Vorschriften beinhaltet. Doch gerade bei diesen typisch islamischen Charakteristika herrscht Uneinigkeit unter den Gelehrten:
Besitz: Besitz und Eigentum sind stets an das Allgemeinwohl gebunden. Inwieweit der Mensch wirklich besitzt, nur als Treuhänder Gottes verwaltet oder überhaupt keinen persönlichen, materiellen Anspruch stellen kann, ist höchst umstritten. Die Bindung an das Allgemeinwohl berechtigt den Staat zweifelsohne zu starken Eingriffen. Nach mehrheitlicher Auffassung kann Besitz rechtmäßig einerseits durch eigene Anstrengung wie Lohnarbeit oder Handel, andererseits durch Rechtsbestimmungen wie im Erbschaftsfall erworben werden.
Zinsverbot: Hier ist man uneins, ob das koranische Verbot nur den Wucher untersagt oder die Zinseinnahme generell. Islamische Banken, die Zinsen nehmen, verpflichten sich in der Regel zur Beteiligung des Geldgebers an Gewinn und Verlust der eigenen Investitionen.
Versicherungen: Die einen sehen in Verkauf und Abschluss von Versicherungen einen Mangel an Gottvertrauen und verweisen auf die Ähnlichkeit mit der Zinsnahme, Parallelen zum Glücksspiel und auf den Risikofaktor. Dagegen sehen andere Rechtsgelehrte im Versicherungssystem die vom islamischen Recht geforderte gegenseitige Hilfe und Solidarität erfüllt.
Der islamischen Welt wurde vom Westen immer wieder vorgeworfen, die proklamierte Höherwertigkeit der islamischen Wirtschafts- und Sozialordnung religiös statt politisch bzw. wirtschaftlich zu begründen. Tatsächliche und vielfältige Missstände – durch messbare Ergebnisse und Statistiken nachgewiesen – würden im Namen des religiösen Absolutheitsanspruchs ignoriert und echte Lösungsansätze im Keim erstickt. Vor allem in islamischen Ländern der Golfregion, in denen politische und geistliche Führer dem Volk sozialen Ausgleich und Wohlstand durch Rückbesinnung auf das islamische Recht, die Scharia, prophezeit hätten, ginge die soziale Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.