Rechtfertigt der Islam die Tötung Unschuldiger?
B O N N (09. September 2004) – Während die Attentäter des 11. September 2001 in mehreren Briefen unmissverständlich den Islam als Antrieb ihrer Attentate bezeichneten, sehen viele Muslime im Koran keine Rechtfertigung von Selbstmordattentaten. In Sure 5,32 lesen wir:
„Wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass er einen Mord begangen oder Unheil auf der Erde angerichtet hat, so soll er wie einer sein, der die ganze Menschheit getötet hat. Und wenn jemand einen Menschen am Leben erhält, soll es so sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten“.
Nimmt man diesen Vers zum Maßstab, kann man wie nicht wenige Muslime zu dem Schluss kommen, dass der Koran Selbstmordattentate, wie sie in Palästina oder am 11. September 2001 in New York geschehen sind, verurteilt, die Attentäter sich also nicht auf den Koran berufen können. Der Islam erscheint geradezu als friedlich, jegliche Gewalt gegen Unschuldige ablehnend.
Dagegen sprechen einige andere Koranstellen unmißverständlich vom Kampf gegen die Ungläubigen zur Ausbreitung des Islam. Die Aufforderung jedes Einzelnen und der gesamten islamischen Gemeinde (umma) zum „Jihad“ ist eines der zentralen Themen des Korans. „Jihad“ lässt sich am besten mit „Anstrengung auf dem Weg Gottes“ übersetzen. Damit kann zum einen die friedliche Werbung für den Islam, der Einsatz des Einzelnen in Form von finanzieller oder logistischer Förderung islamischer Interessen meinen. Der Koran kennt aber auch den kämpferischen „Jihad“, den gewaltsamen Einsatz zur Verteidigung und Ausbreitung des Islam, wie ihn Mohammed als Vorbild der islamischen Gemeinde aller Zeiten gerade zum Ende seines Lebens bei zunehmender Machtfülle und militärischer Stärke vorgelebt hat.
Der „Jihad“ richtet sich gegen die Ungläubigen, also alle jene Menschen, die die islamische Botschaft ablehnen. In Sure 4,76 heißt es:
„Diejenigen, die gläubig sind, kämpfen um Gottes willen, diejenigen, die ungläubig sind, um der Götzen willen. Kämpft nun gegen die Freunde des Satans! Die List des Satans ist schwach“.
Dem Märtyrer, der in diesem Kampf sein Leben verliert, verheißt der Koran Sündenvergebung, Befreiung von der Befragung durch die Engel sowie schmerzlicher Höllenstrafe und damit direkten Zugang zum Paradies. Sure 3,195 lautet wie folgt:
„Und diejenigen, die um meinetwillen … Ungemach erlitten haben, und die gekämpft haben und getötet worden sind, werde ich ihre schlechten Taten vergeben, und ich werde sie in Gärten eingehen lassen, in deren Niederungen Bäche fließen als Belohnung von seiten Gottes. Bei Gott wird man gut belohnt“.
Es geht hier nicht um einen Selbstmord aus persönlicher Verzweiflung oder aufgrund bedrückender Lebensumstände. Einen solchen Selbstmord verurteilt der Koran, leugnet solches Handeln doch die göttliche Fürsorge.
Ziel des „Jihad“ ist die Aufrichtung der Scharia, des islamischen Gesetzes, über alle Menschen. Erst mit der Erreichung dieses Ziels sehen muslimische Gelehrte den im Koran propagierten Frieden erfüllt. Fraglich bleibt, ob der für dieses Ziel notwendige Kampf auch die Tötung Unschuldiger vorsieht. Hier sind sich die muslimischen Gelehrten nicht einig. Manche von ihnen vertreten die Ansicht, dass in Zeiten des Krieges wie in Palästina die Tötung von Zivilisten kein Verbrechen sei. So erklärte auch der Grossscheich der al-Azhar und Grossmufti von Ägypten, Sayyid Mohammed Tantawi, bereits 1998 die palästinensischen Attentate für rechtmäßig:
„Es ist das Recht jeden Muslims, jedes Palästinensers und jedes Arabers, sich inmitten von Israel in die Luft zu sprengen“ und „Selbstmordoperationen dienen der Selbstverteidigung“. Der gleiche Mann verurteilte jedoch in Verlautbarungen gegenüber dem Westen die Anschläge am 11.09. und schrieb bereits 1998 nach dem Angriff auf die amerikanische Botschaft in Kenia:
„Jegliche Explosion, die zum Tod unschuldiger Frauen und Kinder führt, ist eine kriminelle Tat, die nur von Leuten ausgeführt wird, die niederträchtig, Feiglinge und Verräter sind“.
Auch gemäßigte muslimische Gelehrte scheuen eine klare Verurteilung der Selbstmordanschläge. Die Bonner Islamwissenschaftlerin Dr. Christine Schirrmacher sieht einen der Gründe dafür in der im Koran vorgeschriebenen Solidarität innerhalb der islamischen Gemeinschaft. Diese verbiete offene Kritik gegenüber Muslimen und die damit verbundene Solidarisierung mit Nichtmuslimen. Außerdem glaubten viele Muslime an eine Vorherbestimmung menschlichen Handelns durch Allah. Eine Kritik am Attentat verstehen sie daher als unerlaubten Zweifel am göttlichen Ratschluss.
Nachdruck honorarfrei, Belegexemplar wird erbeten.