Warum Muslime die Bibel für verfälscht halten

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Prolog

Heute ist unter Muslimen die Auffassung, daß der Text der Bibel verfälscht worden ist, längst Allgemeingut. Man geht davon aus, daß sowohl das Alte als auch das Neue Testament ursprünglich wahre Offenbarungen Gottes waren, im Laufe der Zeit jedoch von Menschen verändert und verfälscht wurden. Wie diese Änderungen vorgenommen wurden und auf welche Aussagen der Bibel sie sich erstrecken sollen, darüber herrscht unter Muslimen bei Nichttheologen nur ein diffuses Wissen. Muslimische Theologen dagegen versuchen, das islamische Dogma von der Verfälschung der biblischen Schriften mit Argumenten der historisch-kritischen Bibelexegese christlicher Theologen argumentativ zu untermauern.

Angedeutet wird dieser Vorwurf der Verfälschung der Bibel bereits im Koran. Mit Sicherheit aber stand der Vorwurf der Schriftverfälschung an Juden und Christen zu Muhammads Zeiten nicht im Zentrum der christlich-muslimischen Auseinandersetzung. Im Koran wird an vielen Stellen berichtet, daß Gott im Laufe der Geschichte immer wieder neue Propheten gesandt habe, um die Menschen, die von der ursprünglichen Offenbarung abgeirrt waren, zur wahren Botschaft zurückzurufen. Auch Juden und Christen erhielten in der Vergangenheit eine Offenbarung Gottes in ihrer Sprache, irrten jedoch davon ab und hätten sich durch Muhammads Ruf zum Islam der ursprünglichen Botschaft wieder zuwenden müssen.

Diese Aussage des Korans von der wiederholten Sendung von Propheten ist allerdings im historischen Kontext mehr als Argument für die Notwendigkeit zu betrachten, die Sendung Muhammads als Nachfolger Jesu Christi zu begründen, da sowohl Juden als auch Christen Muhammad die Anerkennung als Gesandter Gottes verweigerten. Gleichzeitig diente diese Argumentation als Legitimation Muhammads seinen Landsleuten gegenüber: weil sie mit ihrem Vielgötterglauben und den Götzenopfern von der wahren Gottesverehrung abgewichen waren, mußte Muhammad sie wieder an den von alters her bestehenden Eingottglauben erinnern.

Auch die Christen haben nach muslimischer Auffassung den von alters her verkündeten wahren Glauben verlassen und Gott zwei andere Götter, nämlich Maria und Jesus an die Seite gestellt. Auch darüberhinaus sind sie Irrtümern verfallen. Einen der größten Irrtümer begingen sie, indem sie Muhammad nicht als Propheten anerkannten. Muslimische Theologen gehen davon aus, daß der Islam die Urreligion der Menschheit ist und schon Adam – der Koran enthält eine vergleichsweise ausführlichen Paradieserzählung – ein Muslim und Bekenner des Eingottglaubens war.

Es besteht kein Zweifel daran, daß der Vorwurf der Schriftverfälschung zu Muhammads Zeiten und in den ersten Jahrhunderten nach seinem Tod keine so große Bedeutung hatte, wie er sie insbesondere in den letzten 200 Jahren bekommen hat. Erst von den muslimischen Theologen des 19. Jahrhunderts ist dieser Vorwurf aufgegriffen und mit zahlreichen Argumenten untermauert worden, und zwar vor allem mit Hilfe der Werke europäischer historisch-kritischer christlicher Theologen, die aus muslimischer Sicht als Kronzeugen den ‚Beweis‘ antraten, daß das Christentum unglaubwürdig und unhaltbar, weil historisch unzuverlässig und verfälscht ist.

Was sagt der Koran über die Bibel?

Der Koran erwähnt mehrere ‚Schriften‘, die in früheren Zeiten anderen Propheten vor Muhammad geoffenbart wurden. Einige dieser Hinweise sind unpräzise: So sollen z. B. Abraham und Mose einige „Blätter“ (die einzige Erwähnung findet sich in Sure 87,18+19) – wahrscheinlich Blätter eines Buches – besessen haben, die die Vorzüge des Jenseits gegenüber dem Diesseits priesen. Möglicherweise soll damit angedeutet werden, daß auch Abraham eine Schrift besessen oder offenbart bekommen hat, die der Koran allerdings nicht näher beim Namen nennt. Abgesehen von dieser Anspielung gibt der Koran sonst keinen Hinweis darauf, daß Abraham eine Offenbarung von Gott erhalten habe.

Andere Bezeichnungen von früher zu den Menschen gesandten Schriften sind präziser. So nennt der Koran sowohl die Torah (arab. taurâh) als auch das Evangelium (arab. injîl) beim Namen. Das Evangelium wird insgesamt zwölfmal im Koran erwähnt. Was meint allerdings der Koran mit dem Evangelium? Letztlich bleibt unklar, ob er damit vor allem die Erzählungen von Jesus meint oder eines der vier Evangelien, alle vier Evangelien zusammen oder etwa das ganze Neue Testament. Letzteres ist insofern unwahrscheinlich, als daß der Koran von den Lehren Jesu (z. B. der Bergpredigt) und insbesondere vom Inhalt seiner Lehren, die die Entstehung der neutestamentlichen Gemeinde zur Folge hatten, rein gar nichts berichtet. Während im Koran die Jünger noch am Rande erwähnt werden, gibt der Text keinen einzigen Hinweis auf die neutestamentliche Gemeinde, den Missionsauftrag der Apostel, auf sämtliche neutestamentlichen Briefe, sowie ihre Inhalte und Autoren. Der Koran erwähnt auch keine alttestamentlichen Bücher, sondern lediglich die Namen einiger Personen aus dem Alten Testament. Es wird nicht näher erläutert, was unter der „Torah“ zu vestehen ist: Bestimmte Gesetze des AT, die fünf Bücher Mose oder das gesamte Alte Testament? Man muß daraus schließen, daß Muhammads Wissen darüber, was den Glauben seiner christlichen Zeitgenossen ausmachte, sehr begrenzt war; eine Annahme, die zusätzlich gestützt wird von der Tatsache, daß es zu Muhammads Lebzeiten keine Bibelübersetzung auf arabisch gab.

Positive Äußerungen des Korans über die Bibel

Interessanterweise wird im Koran der Wert früher überlieferter Bücher wie auch des überlieferten Evangeliums zu Beginn von Muhammads Offenbarungen nirgends grundsätzlich in Frage gestellt, sondern vielmehr positiv hervorgehoben. Erst später taucht im Koran der pauschale Vorwurf der Schriftverfälschung auf.

Die vor Muhammad und mit Muhammad herabgesandten Schriften widersprechen sich nach Auffassung des Korans eigentlich nicht, sondern bestätigen sich vielmehr gegenseitig. Jeder Prophet, der in der Geschichte mit einer Offenbarung Gottes zu seinem Volk gesandt wurde, bestätigt die Botschaft seiner Vorgänger, da die Botschaft Gottes sich niemals ändern kann. So bestätigte Jesus die Sendung von Noah, Abraham und Mose, und Muhammad bestätigt die Botschaft Jesu. Deutlich hebt der Koran hervor, daß das Evangelium wie zuvor die Torah von Gott zur Rechtleitung der Menschen herabgesandt worden ist:

„Er hat auch die Torah und das Evangelium herabgesandt, früher, als Rechtleitung für die Menschen“ (3,3-4).

Besonders positiv über den Wert des Evangeliums, das „Rechtleitung“ und „Licht“ enthält, äußert sich Sure 5,46

„Und wir ließen nach ihnen her Jesus, den Sohn der Maria, folgen, daß er bestätige, was vor ihm da war, nämlich die Torah. Und wir gaben ihm das Evangelium, das Rechtleitung und Licht enthält und das bestätigt, was vor ihm da war, nämlich die Torah, und als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen“ (5,46).

Zunächst spricht der Koran nirgends davon, daß die Offenbarungen des Alten und Neuen Testamentes (oder: wie der Koran sagt, der Torah und des Evangeliums) grundsätzlich überholt oder vom Koran abgelöst worden seien. Vielmehr stellt Muhammad den Koran mit den früheren Offenbarungen auf eine Stufe, da der Koran seiner Ansicht nach die zuvor herabgesandten Schriften bestätigt (2,97). Ebenso führt der Koran das später von muslimischen Apologeten (Verteidigern ihres Glaubens) häufig vorgebrachte Argument, das ‚wahre Evangelium‘ aus der Zeit Jesu sei verschollen und nicht in die Hände der christlichen Kirche gelangt, nicht an. Zunächst gibt er keinen Hinweis darauf, daß es zwischen dem von Gott geoffenbarten Evangelium und den Schriften der Christen zu Muhammads Zeiten einen Unterschied gegeben hätte.

Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß Muhammad zu Beginn seiner Verkündigungen davon ausging, daß Juden und Christen ihn als Prophet Gottes anerkennen würden und daß die Botschaft des Korans und der christlichen Schriften vollkommen in Einklang miteinander ständen. Erst als deutlich wurde, daß weder Juden noch Christen Muhammad als Prophet Gottes anerkennen würden, griff er beide Gruppierungen an; die Juden, indem er ihnen militärische Niederlagen beibrachte und sie aus seinem Umfeld in Medina durch Massaker und Vertreibung verbannte, und den Christen, deren Frömmigkeit er zunächst im Koran gepriesen hatte, indem er anfing, ihnen theologische Irrmeinungen wie die Gottessohnschaft Jesu und die Dreieinigkeit vorzuwerfen.

Die Abweichungen der Bibel vom Koran sind Verirrungen der Christen

Nachdem Muhammad zu Beginn seines öffentlichen Wirkens geglaubt hatte, der Inhalt seiner Botschaft stimme mit den vorausgegangenen Offenbarungen an Juden und Christen überein, schlug seine anfängliche Achtung für beide Gruppen als Träger der göttlichen Offenbarung in Feindschaft um, nachdem er von ihnen abgelehnt und verspottet wurde. Auf die Unterschiede zum Altem und Neuen Testament durch seine Nichtanerkennung durch Juden und Christen hingewiesen und in der Überzeugung, selbst der Überbringer des unverfälschten Wortes Gottes zu sein, zog Muhammad den Schluß, daß der Grund für die abweichenden Inhalte beider Offenbarungen eine Verfälschung der Schriften von Juden und Christen sein müsse.
In dieser Zeit des Kampfes um Anerkennung bei Juden und Christen in den Jahren ab 622 n. Chr. verkündete Muhammad, daß die Juden und Christen ihre Schriften im Laufe der Zeit verfälscht hätten, da sie ihn sonst als Propheten Gottes anerkennen würden. Der Islam wird zur Urreligion der Menschheit erhoben. Schon Adam und nach ihm Abraham, Mose und auch Jesus verkündeten stets den Glauben an den einen Gott und die Sendung Muhammads. Wenn nun also die Juden und Christen Muhammad nicht anerkannten, mußte der Grund dafür ihre Abweichung von der Botschaft Gottes sein.

Daher korrigiert Muhammad im Koran seine frühere uneingeschränkt positive Auffassung von den jüdischen und christlichen Schriften. Sure 5,13-14 urteilt nun schon viel schärfer:

„Weil sie (= die Israeliten) aber ihren Bund brachen, haben wir sie verflucht und ihre Herzen verhärtet. Sie entstellten die Worte. Und sie vergaßen einen Teil von dem, womit sie ermahnt worden waren … Und mit denjenigen, die sagen: ‚Wir sind Christen‘ schlossen wir einen Bund. Sie vergaßen einen Teil von dem, womit sie ermahnt worden waren. So erregten wir unter ihnen Feindschaft und Haß; dies wird bis zum Tag der Auferstehung andauern“ (5,13-14).

Und Sure 2,74+75 unterstellt den Israeliten nach einer Auseinandersetzung mit dem Propheten Mose die absichtliche Verfälschung des Wortes Gottes:

„Hierauf, nachdem sich das ereignet hatte, verhärteten sich eure Herzen, so daß sie wie Steine wurden, oder sogar noch härter … Erhofft ihr (= die Muslime) etwa, daß sie (= die Juden) mit euch glauben, wo doch ein Teil von ihnen das Wort Gottes hörte, es dann aber wissentlich entstellte, nachdem er es verstanden hatte?“ (2,75)

Zwar erhob Muhammad also den Vorwurf der Schriftverfälschung in den letzten Jahren seines Lebens klar gegen Juden und Christen, aber in der Islamwissenschaft ist man sich heute verhältnismäßig einig darüber, daß Muhammad damit keine im größeren Maße vorgenommenen Textänderungen der ursprünglichen Offenbarung bei Juden und Christen andeuten wollte. Der Koran setzt sich mit den Inhalten der Bibel nicht differenziert auseinander, sondern erhebt immer und immer wieder einige Standardvorwürfe gegen die Christen und beklagt z. B. die Gottessohnschaft Jesu, die Dreieinigkeit und die Kreuzigung immer wieder. Von Muhammads Seite ist der Vorwurf der Textänderung vor allem aufgrund seiner Ablehnung als Gesandter Gottes zu erklären.

Muslimische Theologen über die Schriftverfälschung

In der Apologetik (Verteidigung des Glaubens) durch die muslimische Theologie nach Muhammad wurde dieser Vorwurf der Schriftverfälschung nun immer wieder neu erhoben und im Laufe der Zeit weiter ausgebaut, bis eine Theorie von der völligen Verfälschung der biblischen Schriften entstand. Allerdings ergaben sich unter muslimischen Theologen unterschiedliche Ansichten darüber, was unter der Schriftverfälschung der jüdischen und christlichen Schriften zu verstehen sei. Während einige Koranausleger der Meinung waren, daß Juden und Christen den Bibeltext vom Wortlaut her verändert hatten (z. B. Bîrûnî), gingen andere nur von der falschen Interpretation bestimmter Ausdrücke aus (z. B. Tabarî, Ibn Haldûn). Allerdings verschärfte sich die muslimische Auffassung davon, in welchem Unfang Textverfälschungen an der Bibel angebracht worden waren, im Laufe der Zeit immer mehr.
Von Ausnahmen abgesehen, hat die frühe muslimische Dogmatik allerdings weniger Gewicht auf diesen Anklagepunkt gegen Juden- und Christentum gelegt und zudem auch weniger konkrete Vorwürfe formuliert, was unter Textverfälschung eigentlich zu verstehen sei. Mit dem Fortschreiten der christlich-muslimischen Kontroverse gewann dieser Punkt jedoch zunehmend an Bedeutung. Bald war man nicht nur der Meinung, daß im Alten und Neuen Testament nur Wortbedeutungen und einzelne Buchstaben verändert worden seien, sondern auch, daß eine systematische, vorsätzliche Fälschung der Bibel stattgefunden habe. Als ‚Beweis‘ führte man z. B. an, daß Muhammad als letzter Prophet Gottes im Alten und Neuen Testament angekündigt worden sei, diese Prophezeiungen jedoch aus allen Bibelhandschriften systematisch ausgelöscht worden seien.

Das muslimische Dogma vom Koran als Ur-Offenbarung

Auch die Annahme, daß der Koran das ewige und, nach Meinung der Mehrzahl der Muslime, unerschaffene Wort Gottes ist, das von Anbeginn bestand, soll aus muslimischer Sicht die Schriftverfälschungshypothese stützen. Der Koran ist nämlich eine genaue Abschrift der Uroffenbarung im Himmel, die schon lange vor Abfassung des Alten und Neuen Testamentes bestanden hat. Es ist aus muslimischer Sicht offensichtlich, daß die ursprüngliche Offenbarung gegenüber einer späteren vorzuziehen ist, denn sie muß die wahre Quelle des göttlichen Wortes sein. Auch muß der Islam, wenn man mit den islamischen Apologeten annimmt, daß Abraham das islamische Zentralheiligtum, die Ka’ba in Mekka, begründete, die zuerst entstandene Religion und damit die Urreligion der Menschheit sein. Auch wenn Mose und Jesus vor Muhammad ihre Botschaft verkündet haben, so bringt Muhammad doch nur wieder die eigentliche Botschaft, nämlich die Botschaft Abrahams und führt damit die Menschen zum Ursprung der Gottesoffenbarung zurück.

Christliche historisch-kritische Theologen als Kronzeugen für den Beweis der Wahrheit des Islams

Erst die in großem Maße populär gewordene Bibelkritik Europas im 18. und 19. Jahrhundert lieferte den muslimischen Theologen die lange gesuchten ‚Beweise‘ für die völlige Unhaltbarkeit des Alten und Neuen Testamentes als Gottes Offenbarung. Etliche Werke europäischer Theologen und Philosophen, deren gemeinsames Anliegen es war, die über viele Jahrhunderte der christlichen Kirchengeschichte fast einhellig anerkannte Authentizität der Bibel in Frage zu stellen und durch die Aufzählung von vermeintlichen Widersprüchen oder historischen Unhaltbarkeiten zunichtezumachen, wurden im Nahen Osten übersetzt und die dort gefundenen Argumente in das muslimische Dogma von der Verfälschtheit der Bibel bereitwillig integriert. Wenn die christlichen Schriftgelehrten sogar selbst die Verfälschtheit ihrer Schriften ‚bewiesen‘, dann war das für muslimische Theologen nur die letzte Bestätigung der Aussage des Korans, der diesen Vorwurf – wenn auch weniger detailliert – schon immer erhoben hatte.1

Man kann davon ausgehen, daß die in zeitgenössischen muslimischen apologetischen Werken üblich gewordenen – für die Glaubwürdigkeit der Evangelien stets negativ ausfallenden – Vergleiche zwischen den synoptischen Evangelien ausschließlich aus den Werken europäischer Theologen in die muslimische Apologetik übernommen wurden. Das Herausarbeiten von Unterschieden in der Berichterstattung der Evangelien stellt kein eigenständiges ‚Ergebnis‘ muslimischer Textforschung an der Bibel dar. Wenn muslimische Apologeten europäische Theologen zitieren, dann geschieht das mit dem Ziel, die ‚Widersprüche‘ des Bibeltextes herauszustellen oder zwischen der ‚paulinischen‘ Lehre und der Verkündigung Jesu und seiner ersten Jünger einen Gegensatz aufzubauen. Wer muslimische apologetische Literatur einmal auf die Übernahme des europäischen theologischen Gedankenguts hin liest, wird über das hohe Maß an Anlehnung an westliche theologische Schulen und ihr Gedankengut sowie über den hohen Informationsstand über die theologischen Entwicklungen Europas in der muslimisch-apologetischen Literatur der Gegenwart erstaunt sein.

Drei islamische Apologeten: Verfechter der Schriftverfälschungstheorie der Bibel

1. Muhammad Rashîd Ridâ (1865-1935)

Muhammad Rashîd Ridâ gehört zu den einflußreichsten muslimischen Theologen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er war ein Schüler des berühmten Muhammad ‚Abduh, eines ägyptischen ‚Reformtheologen‘ und ein entschiedener Gegner des Christentums. Er betätigte sich als Mufti, als Ersteller von Rechtsgutachten und nahm so öffentlich zu den verschiedensten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen Stellung.

Für uns ist hier insbesondere Rashîd Ridâs Einstellung zum Christentum und der Zuverlässigkeit der Überlieferung der Bibel von Bedeutung:

„… Ridâ betrachtet die Bücher des Alten und Neuen Testamentes als eine Mischung aus Mythos, Legende und Geschichte zusammen mit der wahren biblischen Botschaft, wie sie von Gott offenbart worden ist.“2

Rashîd Ridâ stützt sich, wenn er zum Christentum und zur Bibel Stellung bezieht, nach dem Vorbild der muslimischen Apologeten des 19. Jahrhunderts stark auf die historisch-kritische Bibelexegese, um das Christentum mit den Werken seiner eigenen ‚Advokaten‘ zu widerlegen. Ridâ setzte sich zu diesem Zweck mit den neutestamentlichen Schriften und etlichen Werken europäischer Theologen, Philosophen und Literaten intensiv auseinander. Er vertrat trotz seiner kritischen Haltung gegenüber dem Christentum im Unterschied zu vielen muslimischen Apologeten die Meinung, daß der ursprüngliche Text des Alten und Neuen Testamentes nicht in späterer Zeit verändert worden sei, sondern sich die Verfälschungen des ursprünglichen Textes zwischen der Zeit der Verkündigung der christlichen Lehren und ihrer Niederschrift eingeschlichen hätten.3 Diese Tatsache fordert ihn zu einer grundlegenden Kritik heraus.

Rashîd Ridâ macht insbesondere den Apostel Paulus für die Einführung heidnischer Elemente in den christlichen Glauben verantwortlich. Dieses Argument gehört zu den am häufigsten vorgebrachten Kritikpunkten in der islamischen Apologetik. Die Gleichnisse Jesu wurden Ridâs Ansicht nach vielfältig interpretiert, es kam zu Spaltungen unter den Christen, und so entstanden verschiedene Evangelientexte, die nicht mehr mit dem ursprünglichen Wort Gottes identisch sind.

Zudem bezweifelt Ridâ, daß die vier als kanonisch anerkannten Evangelien aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert mit den heutigen Evangelientexten noch identisch sind, da er davon ausgeht, daß bei den Christenverfolgungen der ersten drei Jahrhunderte die ursprünglichen Evangelien nicht gerettet werden konnten. „Im 4. Jahrhundert sieht er – wie die Muslime allgemein – die entscheidende Zäsur in der Geschichte des Christentums…“4, denn auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 n. Chr. wurde, wie muslimische Apologeten vielfach negativ hervorhoben, der Lehrsatz von der Dreieinigkeit und der Erlösung durch den Kreuzestod Jesu zum Dogma erhoben und damit ein schwerer Irrtum begangen,5 denn damit wurde die Einsheit Gottes (arab. tauhîd) durch die Trinität, also durch Vielgötterei, ersetzt. Die heutigen Evangelien sind also nicht mehr einwandfrei überliefert und sind nicht mehr unversehrt.

2. Muhammad Muhammad Abû Zahra (1898-1974)

Muhammad Muhammad Abû Zahra, ehemals Professor für Religionswissenschaft an der berühmten ägyptischen al-Azhar-Universität und Lehrstuhlinhaber an der Juristischen Fakultät der Universität Kairo war eine der wichtigsten Persönlichkeiten der muslimischen Gelehrtenwelt des 20. Jahrhunderts. Bis heute haben seine Schriften großen Einfluß. Erstmals 1942 hielt Abû Zahra in Kairo ‚Vorlesungen über das Christentum‘, die später in mehreren Auflagen veröffentlicht wurden und für die Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum bis heute eine bedeutende Rolle spielen. Auch Abû Zahra ist wie Rashîd Ridâ ein entschiedener Gegner des Christentums.

Abû Zahra greift auf die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode aus der theologischen und philosophischen Literatur Europas zurück, wenn er unterschiedliche Auffassungen über die Abfassungszeit und die Frage der Inspiration der vier Evangelien als Argumente gegen die Glaubwürdigkeit des Christentums anführt. Er bezieht sich in seiner Auswahl der ‚christlichen Werke‘ besonders auf Ernest Renans ‚Leben Jesu‘ (Vie de Jésus), das im Jahr 1863 in Paris veröffentlicht worden war und auf Leo Tolstois Schriften, wobei er allerdings aus Unkenntnis der europäischen Sprachen auf arabische Übersetzungen zurückgreifen mußte.6

Abû Zahras ‚Vorlesungen‘ konzentrieren sich zunächst auf eine ideale Darstellung des Christentums in völliger Übereinstimmung mit dem Islam, wie sie seiner Ansicht nach auch Jesus gelehrt habe. Dieses Christentum sei in den christlichen Schriften aufgrund deren Verfälschung, durch die heidnische Inhalte in christliche Dogmen eingeführt wurden,7 jedoch nicht mehr enthalten und müsse daher im Koran gesucht werden.

Abû Zahra glaubt drei Gründe für die Verfälschung der christlichen Lehre erkennen zu können:8 Die Verfolgungen der ersten Christen hatten die Verfälschung der zu dieser Zeit abgefaßten Schriften zur Folge.

Die Schriften der ersten Christen wurden von der neuplatonischen Philosophie beeinflußt.
Der synkretistische Charakter der römischen Religion und der griechischen Philosophie verfälschte das ursprünglich von Jesus gepredigte Evangelium der Einzigartigkeit Gottes, so daß nun das Christentum eine Mischung aus jüdischen, römisch-heidnischen und neuplatonischen Elementen darstellt.9

Ein weiterer Teil der ‚Vorlesungen‘ enthält Abû Zahras Kritik am bestehenden Christentum. Abû Zahra analysiert die christliche Kirchengeschichte mit ihren Konzilien und theologischen Entscheiden über mehrere Jahrhunderte hinweg und kommt zu dem Ergebnis, daß etwa die Dreieinigkeit keine ursprüngliche christliche Lehre gewesen sei, sondern erst nach der Etablierung der philosophischen Schule von Alexandria ins Christentum eingeführt10 und die Christenheit über diese Frage gespalten wurde. Erst auf den Konzilien der frühen Kirchengeschichte wurden z. B. die Dogmen von der Göttlichkeit des Heiligen Geistes und des Messias formuliert, was auf nicht unerheblichen Widerstand einiger christlicher Gruppierungen gestoßen sei.11

Daß das heutige Christentum eine Verfälschung des ursprünglichen Christentums darstellt, ist ein Argument zahlreicher muslimischer Theologen. Über die Ursache und den Zeitpunkt der Verfälschung existieren allerdings zahlreiche Theorien. Eine ‚Schlüsselfigur‘ für diese Verfälschungstheorie ist der Apostel Paulus, dem in älteren und moderneren islamischen apologeten Werken die Hauptschuld für die Einführung der falschen Lehren ins Christentum zugeschrieben wird. Hermann Stieglecker nennt den Zeitraum spätestens vom 10. Jahrhundert n. Chr. an (also etwa 300 Jahre nach Verkündigung des Islam) für die Auffassung, daß Paulus der Verderber christlicher Dogmatik gewesen sei.12

3. Ahmad Shalabî (geb. ca. 1921)

Der ägyptische Religionswissenschaftler und promovierte Historiker der Universität Cambridge Ahmad Shalabî (geb. zwischen 1921 und 1924) hat sich in einer vergleichenden religionswissenschaftlichen Studie mit dem Titel ‚Vergleichung der Religionen‘ (arab. muqâranat al-adyân) aus dem Jahr 1959 ausführlich über das Christentum geäußert. Er behandelt Themen wie Dreieinigkeit, Kreuzigung und Erlösung und wird hier stellvertretend für das 20. Jahrhundert als muslimischer Gelehrter der Gegenwart angeführt.

Ahmad Shalabî hat Werke westlicher christlicher und nicht-christlicher Gelehrter13 und muslimisch-polemische Abhandlungen und Beiträge von zum Islam konvertierten Christen für seine Analyse des Christentums benutzt. Für Shalabî ist das Christentum eine Mischung aus den persönlichen Anschauungen des Apostels Paulus und aus heidnischen Elementen, die erst von Paulus in das Christentum eingeführt wurden.14 Dem ‚entarteten‘ Christentum ordnet Ahmad Shalabî auch die Evangelien von Lukas und Johannes zu.

Etliche Berichte aus den vier Evangelien wie die Geburt, die Versuchung und Auferstehung Jesu sind für Shalabî nach buddhistischen Legenden und Erzählungen heidnischer Gottheiten Indiens und des Nahen Ostens entworfen worden. Shalabî verwirft auch die in den Evangelien erzählten Wunder: Es sind seiner Meinung nach zu viele Wunder, und sie werden auf so theatralische Weise erzählt, daß sie unglaubwürdig wirken, ohne daß sie seiner Ansicht nach einen bestimmten Zweck erkennen lassen.15

Für diese ablehnende Haltung gegenüber den christlichen Lehren könnten zahlreiche weitere muslimische Theologen angeführt werden. Muhammad Rashîd Ridâ, Muhammad Muhammad Abû Zahra und Ahmad Shalabî sind Beispiele dafür, wie grundsätzlich die Kritik einflußreicher muslimischer Theologen am Christentum ist und welch große Rolle die europäische bibelkritische Literatur für die Rückenstärkung der muslimischen Apologeten spielte.

Aus christlicher Sicht

Gegen die muslimische Schriftverfälschungstheorie lassen sich eine Vielzahl von stichhaltigen Gegenargumenten anführen. Hier nur eine Auswahl:

  • Zum einen ist nur zu offensichtlich, daß Muhammad diese Sicht erst entwickelte, nachdem sich seine ursprüngliche Annahme als falsch erwies, daß die Juden und Christen seiner Zeit ihn als Prophet Gottes anerkennen würden. Da er bereits zuvor verkündet hatte, daß Gott den Menschen durch seine Gesandten stets dieselbe gleichbleibende Botschaft übermittle, die Juden und Christen ihn aber als Prophet Gottes nicht anerkannten, mußte der Widerspruch aufgelöst werden, indem Juden und Christen eine absichtliche Verfälschung ihrer Offenbarung unterstellt wurde.
  • Zum anderen ist es historisch nicht vorstellbar, daß es in der christlichen Kirchengeschichte einmal einen Zeitpunkt gegeben haben soll, an dem systematisch und vorsätzlich eine Bibelverfälschung stattgefunden hat und alle anderen Manuskripte vernichtet wurden, es aber bei der weiten Verbreitung biblischer Schriften über diese geographisch zwangsläufig weitläufige und zentral zu organisierende Aktion keinen einzigen Hinweis in jedweder Art von Literatur in den Jahrhunderten danach gibt.
  • Der Jesus des Korans erhebt den Vorwurf der Schriftverfälschung gegen die Juden und die Thora nicht, was er jedoch aus muslimischer Sicht getan haben müßte, wenn er gekommen war, um die Menschen zum Islam zurückzurufen. Jesus betont im Koran vielmehr, daß er die Thora nur bestätige und sie eine Rechtleitung für die Menschen ist. Das bedeutet, daß zu Jesu Lebzeiten noch keine Verfälschung der Thora vorgelegen haben kann.
  • Wenn die Botschaft des Alten und Neuen Testamentes ursprünglich mit den Lehren des Korans identisch gewesen sei, dann muß das Alte und Neue Testament nicht nur an einigen wenigen Stellen, sondern auf jeder einzelnen Textseite massivst verändert worden sein. Sämtliche Aussagen des Alten Testamentes über den erwarteten Retter und Messias und fast alle Inhalte des Neuen Testamentes, dessen Grundlage und Denkvoraussetzung die vom Koran abgelehnte Gottessohnschaft Jesu, seine Kreuzigung und Auferstehung ist, wären erfunden und falsch.
  • Sämtliche der zahlreichen Entdeckungen sehr früher Handschriften des Neuen Testamentes, sowie aller frühen Übersetzungen des Alten Testamentes, etwa auf griechisch, haben trotz aller Versuche der säkularen Wissenschaft bisher keinen einzigen Text oder historisch eindeutigen Hinweis zutage fördern können, daß der ursprüngliche Text des Alten oder Neuen Testamentes in irgendeiner bedeutsamen Aussage vom heutigen Text abweicht. Geringe Variationen verschiedener Lesarten berühren den Inhalt der Bibel so gut wie überhaupt nicht. Die Bibel gehört zu den in der Geschichte bestüberliefertsten historischen Texten überhaupt.

  1. Das umfangreichste und vielleicht einflußreichste Werk eines muslimischen Theologen aus dem 19. Jahrhundert ist wohl das 1867 erstmalig veröffentlichte und seitdem bis heute immer wieder neuaufgelegte Werk ‚Izhâr al-haqq‘ (Die Aufdeckung der Wahrheit) von Rahmatullâh Ibn Halîl al-‚Utmânî al-Kairânawî, Konstantinopel 1867. 

  2. M. Ayoub. Muslim Views of Christianity. Some modern examples. in: Islamochristiana (Rom) 10/1984. S. 49-70, hier S. 58. 

  3. Muhammad Rashîd Ridâ hat den Gedanken der Textverfälschung des Alten und Neuen Testamentes insbesondere in insgesamt 16 Aufsätzen in der ägyptischen Zeitschrift ‚al-manâr‘ (der Leuchtturm) zusammengefaßt, die in Kairo im Jahr 1928 gesammelt als Buch unter dem Titel ’shubuhât an-nasârâ wa-hujâj al-islâm‘ erschienen (1956/3). Ridâ wollte mit dieser Schrift ein Gegengewicht zu der Arbeit europäischer Missionare setzen, wie etwa zu der Schrift Niqûlâ Ya’qûb Gibrîls ‚abhât al-mujtahidîn‘, Kairo 1901. 

  4. Olaf Schumann. Der Christus der Muslime. Christologische Aspekte in der arabisch-islamischen Literatur. Gütersloh 1975, S. 122. Vgl. Ridâs Aussagen zur Kompilation der vier heute anerkannten Evangelien im vierten Jahrhundert n. Chr. in: al-manâr 10/1907/1908. S. 386. 

  5. Das Konzil von Nicäa 325 n. Chr. verwarf vor allem den Arianismus und formulierte das Dogma von der Gottessohnschaft Jesu, während erst für das Jahr 381 mit Bestimmtheit die Formulierung des Dogmas von der Dreieinigkeit belegt werden kann. 

  6. Ayoub. Views. S. 61. 

  7. Abû Zahra. muhâdarât. S. 160ff. 

  8. Dargestellt nach Ayoub. Views. S. 63-64. 

  9. Abû Zahra. muhâdarât. S. 11. 

  10. Abû Zahra über die Dreieinigkeit: muhâdarât. S. 103-110. 

  11. Abû Zahra. muhâdarât. S. 129ff. 

  12. Hermann Stieglecker. Die Glaubenslehren des Islam. Ferdinand Schöningh: Paderborn, 1962/1983, S. 259. 

  13. Shalaby, Ahmad, muqâranat al-adyân, II: al-masîhîya, al-Qâhira 1965/2, S. 55-56. 

  14. Shalabî. muqâranat. S. 130-140 und Ayoub. Views. S. 64. 

  15. Shalabî. muqâranat. S. 25ff.; vgl. auch Ayoub. Views. S. 62.