Welche Bedeutung hat die islamische Überlieferung?

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Die islamische Überlieferung (hadith: arab. Überlieferung, Tradition, Bericht) hat nach klassischer muslimischer Auffassung dieselbe Autorität wie der Korantext und ist in vollem Umfang göttlichen Ursprungs. Die umfangreiche Überlieferung erläutert und interpretiert gewissermaßen den Korantext. Es genügt daher nicht, die Vorschriften des Korans zu befolgen: auch die Lebensweise, die „Gewohnheit“ Muhammads (arab. die ‚sunna Muhammadiya‘) muß möglichst in allem nachgeahmt werden. Aufschluß darüber, wie Muhammad gelebt und welche Auffassungen er zu bestimmten Fragen vertrat, gibt die umfangreiche islamische Überlieferung.

Schon bald nach Muhammads Tod kamen in der muslimischen Gemeinde viele Erzählungen über Muhammads Verhaltensweisen, Gewohnheiten und seine angeblichen oder tatsächlichen Äußerungen in Umlauf, zu denen später auch Berichte über die ersten Kalifen (Herrscher nach Muhammad) und Prophetengenossen hinzukamen. Zu dieser Zeit war die Überlieferung mit großer Wahrscheinlichkeit noch nicht systematisch erfaßt und höchstens teilweise schriftlich zusammengetragen.

Muslimische Gelehrte stellten ab dem 9. Jahrhundert n. Chr., als die im Umlauf befindlichen hadithe schon sehr zahlreich und sich die Frage der Echtheit etlicher Überlieferungen recht brennend gestellt haben muß, sechs Sammlungen zusammen, die heute von Muslimen als ‚authentische Überlieferung‘ anerkannt werden:

  1. Der Kompilator (‚Zusammensteller‘) der ältesten, berühmtesten und als autoritativ betrachteten hadithsammlung ist ‚Abd Allah ibn Isma’il al-Buhari (geb. ca. 810–870 n.Chr.) mit seiner Traditionssammlung von 97 Kapiteln und 3460 Unterkapiteln. Der arabische Titel des Werkes lautet ‚al-jami‘ as-sahih al-musnad min al-hadith rasul Allah‘, kurz: ‚sahih‘.
  2. Muslim ibn al-Hajjaj (gest. 875 n.Chr.) verfasste das Werk ‚al-jami’as-sahih‘, das etwa 12.000 Überlieferungen enthält.
  3. Abu-Dawud al-Sijistani (ca. 817–888/889 n.Chr.) stellte etwa 4800 Überlieferungen in seinem kitab as-sunan zusammen.
  4. Abu ‚Abd Allah Muhammad b. Maja (ca. 819–886 n. Chr.) sammelte rund 4341 Überlieferungen in seinem Werk ‚kitab as-sunan‘.
  5. Abu ‚Isa Muhammad at-Tirmidhi (ca. 820–892 n.Chr. sammelte 4000 Traditionen.
  6. Abu Abd ar-Rahman an-Nasa’i (ca. 830–915 n.Chr.) sammelte etwa 5000 Überlieferungen in seinem Werk ‚kitab as-sunan‘.

Eine Übelieferung wurde von den Traditionssammlern dann als authentisch anerkannt, wenn sie:

  1. vor allen Dingen eine einwandfreie, d. h. lückenlose Überliefererkette (arab. ‚isnad‘) bis zu einem unmittelbaren Prophetengefährten (also jemand, der Muhammad noch selbst kannte) besaßen,
  2. an mehreren Stellen bezeugt war und
  3. der Überlieferer als zuverlässiger und unbescholtener Informant bekannt war.

Eine Überlieferung (‚hadith‘) besteht immer aus zwei Teilen, der Kette der Überlieferer bis zum Propheten (‚isnad‘) und dem Inhalt der Überlieferung selbst (arab. ‚matn‘). Über die Echtheit einer Überlieferung kann nach Meinung der Mehrheit muslimischer Theologen niemals der Inhalt, sondern stets nur eine einwandfreie Überliefererkette entscheiden. Außer den Gefährten Muhammads, die ihn noch selbst kannten, kommen diejenigen als Überlieferer in Frage, die ihrerseits wiederum die Prophetengefährten gekannt haben.