Buße und Vergebung im Islam

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Gott ist gnädig und barmherzig

Zu den grundlegenden Aussagen des Korans gehört, daß „Gott gnädig und barmherzig ist“ (Sure 4,16). Das wird bereits daran deutlich, daß alle 114 Suren des Korans (mit Ausnahme von Sure 9) mit der Einleitung beginnen: „Im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes“, oder, anders übersetzt, „Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen“. Auf dieses Erbarmen Gottes kann ein Mensch stets hoffen. Wenn er gesündigt hat, über seine Sünde Buße tut und sich von ihr abkehrt, wird Gott alle seine Verfehlungen verzeihen, seien es große oder kleine, denn Gottes Barmherzigkeit „kennt keine Grenzen“ (Sure 7,156).

Sure 3,135–136 verspricht allen gläubigen Muslimen, die Gott für ihre Sünden um Vergebung bitten, Vergebung und den Eingang ins Paradies:

„Diejenigen, die, wenn sie etwa Schändliches getan oder sich gegen sich selber vergangen haben, Gottes gedenken und um Vergebung für ihre Schuld bitten – und wer könnte Schuld vergeben, außer Gott? – und in dem, was sie begangen haben, nicht verharren, wo es ihnen doch klar ist, deren Lohn besteht in Vergebung von ihrem Herrn und in Gärten (gemeint ist das Paradies), unter denen Bäche fließen, und in denen sie ewig bleiben werden. Welch trefflicher Lohn für die, die so handeln!“ (Sure 3,135–136; ähnlich Sure 4,110).

Buße bedeutet Umkehr

Interessanterweise bedeutet der im Koran verwendete Begriff für ‚Umkehr, Buße, Reue‘ (arab. ‚tauba‘) eigentlich Kehrtwendung. Buße im Islam bedeutet nicht eine bloße formelle Absage an die Sünde, sondern beinhaltet auch die an Gott gerichtete Bitte um Vergebung und die Abkehr von diesem Tun. Dann wendet sich Gott auch dem Sünder wieder gnädig zu und leitet ihn recht.
Sure 57,28–29 faßt zusammen:

„O Ihr Gläubigen! Fürchtet Gott und glaubt an seinen Gesandten, dann wird er euch den doppelten Anteil an seiner Barmherzigkeit geben. Er macht euch ein Licht, in dem ihr umhergehen könnt und vergibt euch! Gott ist voller Barmherzigkeit und bereit, zu vergeben. Die Leute der Schrift (gemeint sind Juden und Christen) sollen deshalb wissen, daß sie über nichts von der Huld Gottes verfügen, sondern daß die Huld vielmehr in Gottes Hand liegt. Er schenkt sie, wem er will. Gott ist von großer Huld“ (vgl. auch Sure 9,104–106).
Gottes Gericht

Wenn der gläubige Muslim nach seinem Tod ins Gericht kommt und bestimmte Sünden vorher nicht bereut hat, vertritt die Mehrzahl der muslimischen Theologen die Ansicht, daß Gott ihm dennoch verzeiht und ihn – vielleicht erst, nachdem er eine gewisse Zeit in der Hölle verbracht hat – ins Paradies eingehen läßt.

Nicht vergeben werden kann ohne Reue allerdings der Unglaube eines Menschen (arab. ‚kufr‘), denn der Ungläubige wird auf ewig die Höllenstrafe erleiden. So sagt Sure 4,18:

„Diejenigen aber haben keine Vergebung zu erwarten, die böse Taten begehen, so daß einer erst, wenn der Tod ihm naht, sagt: ‚Jetzt bereue ich‘. Auch diejenigen nicht, die als Ungläubige sterben. Für sie haben wir eine schmerzhafte Qual bereit“.

In diese Kategorie der Ungläubigen fallen alle Menschen, die von Gott nichts wissen wollen, sowie die Götzendiener, also diejenigen, die mehrere Götter verehren und damit neben Gott weiteren Wesen denselben Rang einräumen. Dazu gehören Buddhisten und Hinduisten und alle verwandten Religionen, die mehr als ein Wesen als Gott verehren. Aber auch Juden und Christen sind für Muslime Polytheisten (Verehrer mehrerer Götter), da die Juden nach Auffassung des Korans Esra zum Sohn Gottes erklärt haben (Sure 9,30), während die Christen an drei Götter glauben: Gott selbst, Jesus und Maria als dritte Gottheit, die nach muslimischer Auffassung durch eine Ehebeziehung zu Gott die Mutter Jesu geworden sein muß; ein Gedanke, der für Muslime eine unvorstellbare Gotteslästerung darstellt.

Diese ‚Vielgötterverehrer‘ haben alle den obersten Grundsatz des Islam, daß es nur einen Gott gibt, verletzt und können daher per Definition nicht gläubig sein. Auf Gottes Vergebung können diese Ungläubigen erst dann hoffen, wenn sie über ihre Vielgötterei Buße getan und den Islam angenommen haben. Nur wer seinen Unglauben bereut und Muslim wird, kann im Jüngsten Gericht mit der Gnade Gottes rechnen.

Die endgültige Abkehr von Gott

Wenn ein Mensch sündigt, hat er sich nach Auffassung des Korans zu diesem Zeitpunkt von Gott abgewandt und der Einflüsterung Satans nachgegeben. Wenn er bereut, wendet er sich Gott wieder zu, und Gott wendet sich seinerseits ihm erneut zu.

Auch der Ungläubige wendet sich von Gott ab. Seine Abwendung ist jedoch endgültig, denn er kehrt nicht zu Gott zurück. Deshalb warnt der Koran immer wieder, sich der Barmherzigkeit Gottes zuzuwenden, bevor es zu spät ist und Gott die Strafe im Jüngsten Gericht plötzlich und unerwartet hereinbrechen läßt. Im Jüngsten Gericht kann kein Ungläubiger mehr auf Gottes Erbarmen hoffen. So sagt Sure 39,53–55:

„Sprich: Ihr meine Diener, die ihr gegen euch selber die Übertretung begangen habt! Gebt nicht die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes auf! Gott vergibt alle Sünden. Er ist es ja, der barmherzig ist und voller Vergebung. Und wendet euch eurem Herrn voll Reue zu und ergebt euch ihm, bevor die Strafe über euch kommt. Dann habt ihr keine Hilfe mehr zu erwarten! Und folgt dem Besten von dem, was von eurem Herrn zu euch herabgesandt worden ist, bevor die Strafe plötzlich über euch kommt, ohne daß ihr es merkt!“

Ebenso wie vor der endgültigen Abkehr von Gott warnt der Koran vor der absichtlich begangenen Sünde und der berechnenden Reue kurz vor dem Tod:

„Nur diejenigen haben bei Gott Vergebung zu erwarten, die in Unwissenheit Böses tun und beizeiten davon umkehren. Gott wendet sich ihnen wieder zu. Gott ist allwissend und weise. Diejenigen aber haben keine Vergebung zu erwarten, die Übles begehen, so daß einer erst, wenn der Tod zu ihm kommt, sagt: ‚Jetzt bereue ich‘ …“ (Sure 4,17–18).

Aus diesen verschiedenen Aussagen des Korans über die Sündenvergebung haben muslimische Theologen folgende drei Bedingungen für die Sündenvergebung geschlossen:

  1. Der Sünder muß bereuen, weil er gesündigt hat, nicht aus Berechnung, weil er sich vor Gott und seinem Gericht fürchtet.
  2. Der Sünder muß sich fest vornehmen, die Sünde nicht wieder zu begehen.
  3. Der Sünder muß in Zukunft die Gelegenheit zur erneuten Verfehlung meiden.

Auch wenn Gott schon vergeben hat, fordert die Vergebung vom Menschen Konsequenzen. Wenn sich die begangene Sünde gegen Menschen richtete, muß der Bußfertige Wiedergutmachung leisten. Der Koran enthält dazu etliche Ausführungsbestimmungen; zum Beispiel darüber, wer im Fall der unbeabsichtigten Tötung (des Totschlags) Sühnegeld zu bezahlen hat.

Dieser Gedanke hat sich insbesondere im Volksislam dahingehend weiterentwickelt, daß bestimmte gute Werke (wie zusätzliche Fastentage oder besonders großzügige Almosen) als verdienstvoll und sündenvergebend betrachtet werden. Der Märtyrertod eines Muslims im Kampf gegen die Ungläubigen tilgt nach dieser Auffassung alle Sünden eines Menschen. Der Märtyrer wird sofort ins Paradies eingehen, ohne wie alle übrigen Muslime erst im Jüngsten Gericht nach seinem Glauben befragt zu werden. Ebenso tilgt – so zumindest die Auffassung des Volksislam – die Wallfahrt nach Mekka alle großen Sünden und macht den Pilger angenehm vor Gott. Seine Gebete an der Ka’ba (dem größten islamischen Heiligtum in der Hauptmoschee in Mekka) sind weitaus wirkungsvoller als ein Gebet in einer gewöhnlichen Moschee oder ein Gebet zu Hause. Es liegt nahe, daß diese ‚guten Werke‘ anstelle des eigentlichen islamischen Glaubens und der Befolgung der Gebote das eigentliche Glaubensleben eines Muslims ausmachen können. Ob für jeden einzelnen Muslim die Ableistung verdienstvoller guter Werke der eigentliche Inhalt seines Glaubens sind, darüber läßt sich natürlich nicht pauschal urteilen. Für einzelne ist es sicher der Fall.

Gott vergibt aus seiner Allmacht heraus

Ein interessanter Unterschied zwischen Bibel und Koran ergibt sich bei der Frage, welches in letzter Konsequenz die Ursache für die Vergebung Gottes ist.

In der Bibel ist der Grund für die Vergebung Gottes letztlich seine Liebe zu den Menschen. Es war die Liebe, die Gott dazu bewog, seinen Sohn Jesus Christus in die Welt zu senden und für die Sünden der Menschen sterben zu lassen, damit Menschen Vergebung finden:

„Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16).

Aus Liebe ruft er Sünder zu sich, damit sie durch seine Vergebung in die Gemeinschaft mit ihm eintreten können.

Im Koran liegt der letzte Grund für die Vergebung Allahs dagegen nicht in seiner Liebe, sondern in seiner Allmacht. Der Gott des Korans vergibt, wem er will, aber nicht als Beweis seiner Liebe. Zwar spricht der Koran sehr häufig von den Wohltaten Gottes und seiner Barmherzigkeit über die Menschen, aber das Zentrum seines Wesens ist seine Allmacht und seine erhabene Größe. Gott ist nach Aussagen des Korans so allmächtig, daß es zwischen ihm, dem Schöpfer und dem Menschen, seinem Geschöpf, niemals einen Vergleich geben kann. Der Mensch kann und darf sich von Gott keine Vorstellungen machen, die Gottes Allmacht begrenzen würden. Daher kann der Mensch Gottes Verhalten weder jemals berechnen noch Gottes Handeln vorausahnen, und deswegen kann der gläubige Muslim sowohl über die Vergebung als auch seine Errettung am Jüngsten Tag keine absolute Gewißheit erhalten, auch wenn er darauf hofft. Eine letzte absolute Gewißheit über die Errettung würde ja bedeuten, daß der Mensch Gott sein Handeln vorschreibt, ihn also darauf festlegt, wie er in den Augen seiner Geschöpfe handeln muß.
Demgegenüber betont die Bibel an vielen Stellen die Gewißheit des Gläubigen, Kind Gottes zu sein und das ewige Leben zu erben:

„Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht. Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wißt, daß ihr ewiges Leben habt, die ihr an den Namen des Sohnes Gottes glaubt“ (1. Johannes 5,12–13).