Der Koran – Die heilige Schrift des Islam

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Der Islam ist eine klassische Schrift- oder Buchreligion. „Im Mittelpunkt des Christentums steht eine Person, Christus; im Mittelpunkt des Islams dagegen ein Buch, der Koran“. Das bedeutet zum einen, daß die Offenbarungsschrift des Islam, der „edle (oder „vornehme“) Koran“ (arab. ‚al-qur’an al-karim‘) – wie er von muslimischen Theologen genannt wird – eine zentrale Stellung im Islam einnimmt. Aber ähnliches könnte auch für die Bibel im Christentum gesagt werden. Im Unterschied dazu gilt jedoch für den Islam, daß darüber hinaus auch das Buch als solches, also die einzelne Koranausgabe verehrt wird. Der Koran wird als Zeichen besonderer Hochachtung geküßt und mit besonderer Sorgfalt behandelt. Frauen dürften ihn zur Zeit ihrer Unreinheit (Menstruation) nicht berühren. Der Koran darf auf keinen Fall beschmutzt, verbrannt, zerrissen oder auf andere Weise minderwertig behandelt werden, da man sonst der Apostasie (des Abfalls vom Glauben) angeklagt werden kann: Das bedeutet, daß ein respektloser Umgang mit dem gedruckten Wort einer Beleidigung Gottes gleichkommt.

Hinzu kommt, daß die arabische Sprache für den Koran von ungleich viel größerer Bedeutung ist als das Hebräische und Griechische für das Alte und Neue Testament. Über viele Jahrhunderte hinweg durfte der Koran in keine andere Sprache übersetzt werden, denn das Dogma der islamischen Theologie von der ‚Unnachahmlichkeit‘ des Korans wurde von muslimischen Theologen dahingehend ausgelegt, daß ein Koran nur in der Sprache seiner ursprünglichen Offenbarung existieren dürfe.

Eine Übersetzung sei niemals dem Urtext gleichwertig und damit kein eigentlicher Koran mehr. Nach Ansicht der muslimischen Theologie ist die Sprache des Korans in jeder Hinsicht vollkommen. Es sei das schönste Arabisch, und der Text sei von unübertrefflicher Harmonie und Vollkommenheit. Dieses Verbot der Übersetzung bedeutete für die islamische Mission, daß viele nichtarabischsprachige islamisierte Völker über lange Zeit hinweg keinen unmittelbaren Zugang zum Koran besaßen. Erst in neuerer Zeit – vor allem in den vergangen drei, vier Jahrzehnten – ist dieses Verbot der Übersetzung gelockert worden. Zu Missionszwecken werden heute zahlreiche Übersetzungen des Korans verbreitet, die vor allem aus Saudi-Arabien finanziert werden.

Das Auswendiglernen von Teilen oder sogar des gesamten Korantextes mit seinen 114 Suren (Kapiteln) hat in der islamischen Welt immer eine besondere Bedeutung gehabt. Ein Kenner des gesamten Textes, ein ‚Koranbewahrer‘ (arab. hafiz = Hüter, Bewahrer), wird dort besonders hoch geachtet. In einigen theologischen Hochschulen wie z. B. der berühmten al-Azhar-Universität in Kairo ist das Auswendiglernen des gesamten Textes bis heute Zugangsvoraussetzung zum Studium.

Die Gliederung des Korans (Suren und Verse)

Der Koran, der nach muslimischer Auffassung die Offenbarungen Allahs in reiner, unverfälschter Form enthält, richtet sich mit seiner Botschaft an alle Menschen der Erde. Der Koran besteht heute aus 114 Abschnitten oder Suren unterschiedlicher Länge mit insgesamt rund 6.200 Versen. Die kürzeste Sure umfaßt nur 3 Verse, die längste 286 bzw. 287 (Sure 2). Die Suren beginnen jeweils mit einer Überschrift, danach folgt (ausgenommen bei Sure 9) die Formel: „Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen“ (die sogenannte basmala).

Wer eine arabische Koranausgabe zur Hand nimmt, stellt fest, daß der gesamte heute vorliegende Text in 30 Abschnitte aufgeteilt ist, die während des 30 Tage dauernden Fastenmonats Ramadân rezitiert werden können.

Die Suren selbst bilden in sich zumeist kein geschlossenes Ganzes, sondern sind eine Aneinanderreihung von einzelnen Sequenzen (Folgen), die inhaltlich lose oder gar nicht miteinander verbunden sind. Muslime wie Nichtmuslime sind sich verhältnismäßig einig in der Annahme, daß insbesondere die längeren Suren erst nach Muhammads Tod (632 n. Chr.) aus Einzelstücken zu zusammenhängenden Suren zusammengefügt wurden. Daher werden in ein und derselben Sure oft zahlreiche Themen ohne scheinbaren Bezug zueinander angesprochen: Der Koran enthält Texte über Gottes Handeln und seine Schöpfung, Erzählungen von seinen Propheten, die die Menschen immer wieder vor dem drohenden Gericht warnten, sowie Texte über das Endgericht über alle Menschen, das für die gläubigen Muslime den Eingang ins Paradies, für die übrigen jedoch ewige Höllenpein bedeuten wird.

Darüber hinaus enthält der Koran praktische Anordnungen zur Regelung des Gemeindelebens in Medina wie Bestimmungen zum Straf-, Erb-, Ehe- und Familienrecht. Üblicherweise werden die Gebote des Korans in vier Hauptkategorien eingeteilt: die Glaubensartikel (arab. ‚aqa’id), die religiösen Pflichten (arab. ‚ibadat), die ethischen Vorschriften (arab. ahlaq) und die Vorschriften für die zwischenmenschlichen Beziehungen (arab. mu’amalat).

Nur wenige der Erzählungen des Korans sind in sich abgeschlossen. Viele Berichte über die koranischen Propheten – darunter sind viele Männer aus der Bibel wie Abraham Mose, Hiob und auch Jesus Christus – sind über etliche Suren verteilt. Man gewinnt aus der Lektüre des Korans nicht den Eindruck, als ob ein einziges der dogmatischen Themen systematisch abgehandelt worden sei. Etliche der über viele Suren verstreuten Prophetenerzählungen weisen große Unterschiede, ja manchmal Gegensätzlichkeiten auf.

Ein Nichtmuslim würde sagen: Der Koran, der nach Muhammads Auffassung ihm im 7. Jahrhundert n. Chr. auf der Arabischen Halbinsel als Offenbarung Gottes gegeben wurde, war niemals dazu ‚entworfen‘, für ein Weltreich in der Moderne Antworten auf jegliche Art ethischer, wirtschaftlicher, religiöser, politischer und kultureller Belange zu geben. Für den muslimischen Gläubigen, der den Koran als unverfälschte Offenbarung Gottes betrachtet, ist dieses Problem, daß der Koran heute Fragen beantworten muß, die zu seiner Entstehungszeit nie gestellt worden sind, zwar existent, schafft aber keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.

Muslimische Theologen haben unterschiedliche Wege beschritten, um zu begründen, daß im Koran bereits alles Wissen der Welt enthalten sei. Deshalb könne der Koran niemals in Widerspruch zu Technik und Wissenschaft geraten.

Einige Theologen versuchten, moderne Fragestellungen durch Analogieschluß zu beantworten: Eine aufkommende Frage wird dabei mit im Koran oder der Überlieferung geschilderten Situationen verglichen und dementsprechend entschieden. Andere Theologen haben die Position eingenommen, daß Errungenschaften der Moderne (wie z. B. das Telefon), die im Koran nicht erwähnt werden, eine unzulässige Neuerung (arab. bid’a) und daher für gläubige Muslime verboten seien. Andere meinten dagegen, daß alle Dinge des menschlichen Lebens im Koran bereits erwähnt werden, nur nicht mit den heute üblichen Begriffen. Auch die moderne Wissenschaft ist für sie mit den Aussagen des Korans vereinbar.

Ein Beispiel dafür sind die Anschauungen des ägyptischen Reformtheologen Muhammad ‚Abduh (1849–1905). Er vertrat, daß es keinen Widerspruch zwischen der Vernunft des Menschen und der Offenbarung Gottes geben kann und daß der Koran zwar kein Handbuch zur Wissenschaft sei, daß er aber in Bildern und Vergleichen rede, die durchaus mit Hilfe der Vernunft ausgelegt werden könnten. Wenn der Koran z. B. davon spricht, daß die Geistwesen (arab. jinn) bei den Menschen Krankheiten verursachen, dann seien damit eigentlich Krankheitserreger gemeint.

Wer heute einen deutschen Koran liest, wird feststellen, daß die einzelnen Suren nicht in chronologischer Reihenfolge ihrer Offenbarung angeordnet wurden, sondern der Länge nach, so daß abgesehen von der ersten Sure, der ‚Fatiha‘ (die „Eröffnende“), die längste Sure die zweite, die kürzeste die 114. Sure ist. (Allerdings gibt es einige Ausnahmen davon: So besteht etwa die achte Sure nur aus 75 Versen, die neunte dagegen aus 129 u.a.m.) Im allgemeinen nimmt aber die Länge der Suren zum Ende des Korans hin ab.

Die Anordnung der Suren nach der Länge statt nach inhaltlichen Gesichtspunkten bringt einige Schwierigkeiten mit sich. Da viele Begebenheiten aus dem Leben Muhammads (wie etwa die einzelnen militärischen Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern zur Frühzeit des Islam) wie auch die meisten aus dem Alten Testament entlehnten Prophetenerzählungen nicht im eigentlichen Sinn berichtet werden, sondern der Koran nur Anspielungen darauf enthält, ist aus dem Text selbst ohne weitere Kenntnis der entsprechenden Hintergründe und der koranisch-theologischen Termini nicht immer leicht zu entnehmen, worum es eigentlich geht. Das macht den Koran als ‚Einstiegslektüre‘ über den Islam fast ungeeignet. Deswegen und im Hinblick auf seine oft weitschweifigen Wiederholungen und die im deutschen nur schwer flüssig wiederzugebende arabische Reimprosa ist der Koran im Abendland bis heute eine größtenteils schwerverständliche Lektüre geblieben.

Der Anspruch des Korans als Gottesoffenbarung

Der Koran ist, so wie er nach muslimischer Auffassung Muhammad durch den Engel Gottes übermittelt wurde, eine von Gott kommende Offenbarung (arab. wahy), die als Wort Gottes für alle Menschen absolute Gültigkeit besitzt. Der Koran sagt selbst über sich, er

„… ist vom Herrn der Welten herabgesandt. Der treue Geist hat ihn herabgebracht, auf dein Herz, damit du ein Warner sein mögest“ (Sure 26,192-194).

Auch der heilige Geist spielte nach dem Zeugnis des Korans bei der Überbringung des Korans eine aktive Rolle:

„Sprich: Der heilige Geist hat ihn von deinem Herrn mit der Wahrheit herabgesandt, damit er diejenigen, die glauben, festige, und als Rechtleitung und frohen Botschaft für die Gottergebenen“ (16,102).

Der Koran, an dem nicht gezweifelt werden darf (2,2), sagt über sich selbst, daß er als ‚klare‘ oder ‚deutliche Warnung‘ auf Muhammad herabgesandt worden ist. Der Koran hat keinen menschlichen Ursprung, sondern ist nach seinem eigenen Zeugnis Wort für Wort die wahre Offenbarung Gottes:

„Und wir haben ihn (ergänze: Muhammad) nicht das Dichten gelehrt, das steht ihm nicht an. Es ist nur eine Mahnung und ein deutlicher Koran, damit er diejenigen warne, die leben, und damit das Wort an den Ungläubigen wahr werde“ (36,69-70).

Muhammad ist nicht nur der Warner vor Gericht und Verdammnis, sondern auch der „Verkünder froher Botschaft“ oder „Freudenbote“ (41,4), der den Menschen seiner Zeit den Weg zu Gott weist. Gott hat dem Inhalt nach immer wieder dieselbe Schrift herabgesandt, aber in verschiedenen Formen. Nachdem bereits andere Völker Offenbarungen empfangen haben, wird nun den Arabern die Offenbarung Gottes im Koran auf Arabisch gegeben (13,37; 43,3). Sure 54,17 betont, daß der Koran verständlich und für jedermann zu begreifen ist:

„Und wir haben doch den Koran leicht (verständlich) gemacht (so daß er jedermann) zur Mahnung (dienen kann)“.

Der Koran ist nicht das Werk Satans (81,25). Der Koran, so verteidigt sich Muhammad gegen die Vorwürfe seiner Landsleute, ist auch nicht das Werk eines Dichters oder eines Wahrsagers, sondern er ist einem „vortrefflichen Gesandten“ offenbart worden (69,38–42). Muhammad hat im Koran nicht das verkündigt, was er selbst beschlossen hatte, sonst, so sagt Allah, „hätten wir ihn an der Rechten gefaßt und ihm dann die Schlagader durchtrennt, und keiner von euch könnte uns von ihm abhalten“ (69,45–47).

Die Sammlung des Korantextes

Auch von muslimischer Seite unbestritten ist die Tatsache, daß bei Muhammads Tod (632 n. Chr.) der Koran nicht als vollständiger Text vorlag. Die einzelnen Teile sollen, so mehrere traditionelle muslimische Berichte, „von ‚Zetteln, Steinen, Palmstengeln und den Herzen der Menschen‘ zusammengetragen“ worden sein. Es existierte wohl eine Art schriftliche Vorform zum heutigen Koran, jedoch keine vollständige Sammlung, da sonst nach Muhammads Tod keine Sammlung des Korans hätte erfolgen müssen. Eine Überlieferung nach ‚Abdullâh b. ‚Umar besagte:

„Keiner von euch soll sagen: ‚Ich bin in Besitz des gesamten Qur’ans‘. Wie kann er wissen, was der gesamte Qur’an wäre? Viel vom Qur’an ist fort … Er soll statt dessen sagen: ‚Ich bin in Besitz dessen, was noch vorhanden ist‘“.

Es existierten wohl bereits einzelne Suren, da der Koran selbst diesen Ausdruck verwendet (2,23; 10,38). Möglicherweise wurden sie jedoch bei der Rezension des Korans nach Muhammads Tod (632 n. Chr.) wiederum umgestaltet und neugeordnet. Aus der Aufforderung Muhammads an seine Gegner in Sure 11,13, ebenfalls zehn Suren beizubringen, um damit einen Gegenbeweis gegen die Echtheit des Korans zu führen, hat man geschlossen, daß zu diesem Zeitpunkt (der frühen medinensischen Zeit, also in den Jahren ab 622 n. Chr.) bereits mindestens zehn Suren zur Verfügung standen. Je nachdem, wieviel Substanz des heutigen Korantextes man direkt für auf Muhammad zurückgehend ansieht, wird der Anteil der Mitwirkung der Koranrezensenten (also derjenigen, die den Koran zusammenstellten) für größer oder geringer gehalten.

Wurde der Korantext verändert?

Obwohl der Koran unter Verbalinspiration bei Ausschaltung der Persönlichkeit Muhammads zustande gekommen sein soll (im Gegensatz dazu werden in den Schriften des Alten und Neuen Testamentes die Persönlichkeiten der einzelnen Schreiber deutlich), hat die muslimische Theologie nicht bestritten, daß einzelne Verse des Korans nach ihrer erstmaligen Offenbarung später wieder abrogiert (aufgehoben) worden sind, da sie nur zeitlich begrenzt gültig gewesen seien.

Daß eine Buchreligion wie der Islam die Möglichkeit der Abrogation anerkennt, ist eine interessante Tatsache. Man geht davon aus, daß Gott selbst sein Wort geändert habe. Einige dieser später aufgehobenen Verse sind im heutigen Korantext in der ursprünglichen und der korrigierten Fassung noch enthalten. Ein Beispiel dafür ist die Anweisung, die Gebetsrichtung für die fünf täglichen Pflichtgebete von Jerusalem auf Mekka zu ändern (2,142–150) – dies geschah, nachdem die Juden in Medina Muhammad als Prophet Gottes endgültig abgelehnt hatten. Sure 73 fordert zum Gebet während des „größten Teils der Nacht“ auf (73,1–4). Vers 20 derselben Sure relativiert und schränkt diese Forderung erheblich ein und fordert vom einzelnen nur das an nächtlichem Gebet, was ihm zu leisten möglich ist. Dies sind also zwei Beispiele für Anweisungen, bei der sowohl das alte als auch das neue Gebot noch im Koran enthalten sind.

Bei anderen Versen ist die ursprüngliche Version nicht im Koran erhalten geblieben. Dazu gehört z. B. der ‚Steinigungsvers‘, der für Ehebruch die Todesstrafe durch Steinigung fordert. Dieses Strafmaß, das heute in der muslimischen Theologie als rechtlich verbindlich anerkannt wird, wird nur noch in der Überlieferung erwähnt, nicht jedoch im Korantext selbst. Man kann annehmen, daß auch der Koran einmal eine solche Anweisung zur Steinigung von Ehebrechern enthalten hat. Nach dem heutigen Text verlangt der Koran nur noch die Auspeitschung der Schuldigen (24,2ff.).

Gründe für die Textänderungen im Koran

Der Koran selbst übergeht die spätere Abänderung von Korantexten nicht stillschweigend, sondern greift sie selbst auf. Sure 2,106 lautet z. B.:

„Wenn wir einen Vers auch austilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir einen besseren dafür bei oder einen, der ihm gleichwertig ist“ (2,106).

Sure 22,52 berichtet ganz unumwunden, daß es dem Satan gelungen sei, jedem Gesandten in der Geschichte seine eigenen Wünsche als Gottes Offenbarung unterzuschieben, daß Gott dann aber diese falsche Botschaft auslöschte und die richtige Offenbarung endgültig festlegte. Auch Sure 87,6-7 spricht von der Möglichkeit einer Abänderung des ursprünglichen Korantextes, allerdings durch Gottes Willen:

„Wir werden dich vortragen lassen, und du wirst nicht vergessen, außer dem, was Gott will! Wahrlich, er weiß, was offen, und was verborgen ist“.

Auch wenn Sure 20,114 Muhammad ermahnt „Übereile dich nicht mit dem Korantext, bevor er dir endgültig eingegeben worden ist!“, läßt diese Anweisung vermuten, daß von Muhammad nach einer ersten Offenbarung selbst das Abwägen des Vortragstextes und ein Abwarten erwartet wurde, ob dies wohl die endgültige Offenbarung sei.

Umgekehrt berichtet Sure 10,15 davon, daß Muhammad von seinen Zeitgenossen aufgefordert wurde, den Text des Korans selbst zu verändern. Gegen dieses Ansehen wehrte sich Muhammad jedoch, ohne jedoch grundsätzlich abzustreiten, daß der Korantext verändert werden könnte:

„Sprich: Ich darf ihn nicht von mir aus abändern. Ich folge nur dem, was mir offenbart wird. Wenn ich mich meinem Herrn widersetze, habe ich die Strafe eines gewaltigen Tages zu fürchten“ (10,15).

Der Koran nennt selbst also drei Gründe für die Abänderung von Korantexten nach ihrer ursprünglichen Offenbarung:

  1. Muhammad vergaß etwas davon.
  2. Der Satan schob Muhammad eine falsche Offenbarung unter.
  3. Gott selbst tauschte einige Passagen gegen bessere Offenbarungen aus.

Aus der frühislamischen Literatur und deren Koranzitaten können Tausende von Korantextvarianten entnommen werden, die sich im heute offiziell gültigen Korantext nicht mehr finden. Windrow Sweetman zählt im Anhang seiner umfassenden Studie zum Vergleich zwischen Islam und Christentum insgesamt über 260 Verse des Korans auf, die sich gegenseitig aufheben. Man kann davon ausgehen, daß nur die wenigsten Suren an einem Stück, wie sie heute der Koran enthält, offenbart worden sind. Vielmehr deutet vieles darauf hin, daß die einzelnen Suren Kompilationen aus mehreren Bruchstücken darstellen, deren ursprünglicher Text von Muhammad oder späteren Koransammlern überarbeitet worden ist. Daß diese Komposition der Suren trotz ihrer Zusammenstellung aus häufig zu verschiedenen Zeiten entstandenen Teilen nicht dem Zufall überlassen blieb, sondern bewußte Kompilation war, ist in neuerer Zeit auch von der westlichen Islamwissenschaft aufgegriffen und vertreten worden.