Die Schiiten

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Nachdem Muhammad am 8.6.632 gestorben war, ohne eine Regelung für seine Nachfolge getroffen zu haben, entstanden unter der jungen muslimischen Gemeinde unterschiedliche Auffassungen darüber, wer ihr Führer sein sollte. Daraus ergab sich die geschichtlich und theologisch folgenschwerste Spaltung der islamischen Gemeinschaft in verschiedene Gruppierungen, unter denen diejenigen, die später als „Sunniten“ und „Schiiten“ bezeichnet wurden, die bedeutendsten waren. Als „Schiiten“ werden die Anhänger ’Alis, des Cousins und Schwiegersohns Muhammads bezeichnet, die einen direkten Abkömmling des Propheten als Nachfolger Muhammads forderten (shi’at ’Ali = „Partei“ des ’Ali), während die sunnitische Mehrheit zwar auch einen Nachfolger aus Muhammads Stamm, den Quraysh verlangte, aber gleichzeitig dessen bestätigende Wahl durch einen Rat (arab. ‚shura‘) und seine öffentliche Huldigung (arab. bay’a) als fähigen Heerführer forderte.

Nach Meinung der Schiiten konnte nur auf einem Verwandten Muhammads die Segenskraft des Propheten liegen. Außerdem, so argumentierten die Schiiten, habe Gott selbst ’Ali zum Nachfolger auserwählt und dies Muhammad noch vor seinem Tod mitgeteilt; eine Ansicht, die die Sunniten nicht teilen konnten. Da alle leiblichen Söhne Muhammads bereits vor ihm verstorben waren, wären die nächsten leiblichen Verwandten Muhammads seine Enkel al-Hasan und al-Husain gewesen, die allerdings beim Tod Muhammads noch Kinder im Alter von etwa 6 und 8 Jahren waren. Daher bestimmten die Schiiten Muhammads Schwiegersohn ’Ali zum Anwärter auf das Kalifat.

’Ali konnte seinen Anspruch jedoch nicht durchsetzen. In seiner Abwesenheit wurde noch 632 Abu Bakr zum ersten Kalifen (regierte 632–634 n. Chr.) gewählt, danach folgten ’Umar (634–644) und ’Uthman (644–656), die alle zur sunnitischen Anhängerschaft gehörten. Erst im Jahr 656 kam ’Ali (656–661) an die Macht. Nach schiitischer Auffassung waren die drei ersten Kalifen „unrechtmäßige“ Kalifen und ihre Wahl eine schwere Sünde. Daher nahm die Schia von Anfang an eine ablehnende Haltung gegenüber den sunnitischen Kalifen–Dynastien der Umayyaden und Abbasiden ein. Die ersten drei Kalifen werden daher bei schiitischen Feierlichkeiten als „Ursupatoren“ der Macht häufig verflucht.

Nachdem ’Ali 661 ermordet worden war, versuchten die Schiiten erneut, die Macht an sich zu reißen. Der Prophetenenkel al-Hasan erklärte jedoch – möglicherweise gegen erhebliche finanzielle Zuwendungen – seinen Verzicht auf das Kalifat, und al-Husain fiel im Jahr 680 in der berühmten Schlacht von Kerbela (im heutigen Irak), womit alle unmittelbaren männlichen Nachfahren Muhammads ausgelöscht waren. al-Husain wurde für Schiiten zum Ideal des schiitischen Märtyrers. Im Gedenken an seinen Tod in Kerbela begehen Schiiten am 10. Tag des Monats Muharram, dem ’Ashura-Tag, umfangreiche Trauerfeierlichkeiten mit Prozessionen und Geißlergruppen, die sich selbst durch Schwerter oder Ketten Verletzungen zufügen, um das Leiden al–Husains nachzuahmen. Wer bei den Passionsspielen und Umzügen Tränen für al-Husain vergießt, erhält Teil an seiner Erlösung – so die schiitische Überzeugung – die al-Husain durch sein Leiden und seine Fürbitte für die Gläubigen im Jüngsten Gericht erwirkt.

Leiden wird in der Geschichte der Schia zum Leitmotiv, das nach ’Alis und al-Husains Tod im – wie Schiiten meinen – Märtyrertod aller schiitischen Imame (Leiter der islamischen Gemeinschaft) in der Geschichte seine Fortsetzung findet. Die Gräber von ’Ali, al–Hasan und al–Husain sind im schiitischen Volksislam für viele bedeutendere Wallfahrtsorte geworden als Mekka.

Nachdem die beiden Prophetenenkel al-Hasan und al-Husain im Kampf um das Kalifat gescheitert waren, verlagerten die Schiiten ihre Hoffnung auf Herrschaft auf die Endzeit, in der der Mahdi (der „Rechtgeleitete“) als Erlöser sichtbar aus der Verborgenheit wiederkommen und ein Friedensreich aufrichten werde. Seinem Auftreten werden Sonnen- und Mondfinsternisse, Erdbeben, Heuschreckenplagen und Wasserfluten vorausgehen. Dann werden sich falsche Mahdis erheben und Kriege gegeneinander führen. Am Ende sollen Stürme die Erde reinigen und alle Krankheiten von den wahren Gläubigen nehmen. Danach soll der wahre Mahdi in Mekka in der Ka’ba erscheinen und alle sich ihm widersetzenden Ungläubigen töten. Unter seiner Herrschaft wird das Paradies auf Erden aufgerichtet werden.

Das herausragendste Kennzeichen schiitischer Lehre ist der Glaube an den Imam. Er ist der oberste Führer der Gemeinde, ein von Gott auserwählter Leiter, eine Art Vertreter des Propheten, von dem er blutsmäßig abstammen muß. Er interpretiert die Offenbarung des Korans, vor allen Dingen dessen verborgenen Sinn, den die Gläubigen selbst nicht verstehen können. Er ist eine Art Mittler zwischen Gott und der Gemeinde, in seinen Lehrentscheidungen unfehlbar und sündlos (arab. ma’sum) und hat übernatürliches Wissen. Die Aussprüche der Imame besitzen für Schiiten dieselbe Lehrautorität wie der Koran. – Die Sunniten besitzen eine solche unfehlbare Lehrinstitution nicht.

In Rechtsfragen sind die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten nicht wirklich grundlegend. Im Wortlaut des Gebetsrufs weichen sie von den Sunniten geringfügig ab. Erwähnenswert ist die Institution der Zeitehe auf schiitischer Seite (eine vereinfachte Form der Eheschließung von begrenzter Dauer mit Entlohnung der Ehefrau), sowie die Tatsache, dass nach schiitischem Recht Männer und Frauen zu gleichen Teilen erben.

Die Schiiten sind aufgespalten in mehrere Splittergruppen, von denen die Zwölferschiiten die bedeutendste Gruppierung sind. Darüberhinaus existieren bzw. existierten die Viererschiiten, die Zayditen, die Siebener- und Fünferschiiten.

Die Sunniten stellen heute mit rund 90% weltweit die Mehrheit der Muslime dar, die Schiiten eine Minderheit von 8–9%; andere Schätzungen gehen von 12% oder sogar 15% aus. Der Iran ist das einzige islamische Land, in dem die zwölferschiitische Lehre Staatsreligion ist. Heute leben Schiiten außer im Iran (91%) in Syrien, dem Irak (55%), dem Libanon (35–40%), der Türkei, Afghanistan (15–20%), Saudi–Arabien (5%), den Golfländern, Indien und Pakistan (10–15%).