Das Konzept von „Ehre“ und „Schande“ ist im Bereich der nahöstlichen Tradition und des Volksislam anzusiedeln und werniger mit dem Koran zu begründen. Der Koran nennt zwar den Begriff der „Ehre“ an einigen wenigen Stellen (3,26-27; 49,13; 70,23-35), aber es geht in diesem Zusammenhang um die Ehre, die Allah dem rechten Gläubigen zumisst, vor allem dadurch, dass er ihm nach seinem Tod den Zugang zum Paradies gewährt. Weder der Koran noch die islamische Überlieferung sprechen in dem Sinn von Ehre, wie er vor allem im ländlichen Bereich, dem vom Stammedenken und Stammesstrukturen geprägten islamischen Umfeld gelebt wird.
Die Auffassung davon, was „Ehre“ (im Türkischen oft ‚namus‘ oder ‚onur‘) und was „Schande“ ist, wird also vor allem durch die Tradition bestimmt, sowie durch die Werte, die innerhalb der Stämme und Familienclane gelebt werden. Seit seiner Entstehungszeit ist der Islam mit Stammesstrukturen verbunden, denn die Arabische Halbinsel war zu Lebzeiten Muhammads von arabischen Stämmen besiedelt. Besonders im ländlichen Bereich, wo die Familienbande durch Heiraten und gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten stark und die Großfamilien noch vielfach intakt sind, sind die Auffassungen von Ehre und Schande noch heute sehr lebendig. In der Stadt lösen sich diese Strukturen stärker auf, Frauen gehen zur Arbeit, anstatt wie im traditionellen Bereich zu Hause zu bleiben und die gegenseitige Kontrolle und die Verteidigung der Ehre verliert stärker an Bedeutung.
Zwei Ehrauffassungen
Eigentlich gibt es zwei Auffassungen von Ehre. Die Ehre, die ein Mann besitzt, der gastfrei, höflich und respektvoll gegen jedermann, den Armen gegenüber hilfsbereit ist und sein Wort hält (arab. sharaf, türk. sheref). Ein jähzorniges, der Gemeinschaft gegenüber verschlossenes Familienoberhaupt wird dagegen nicht mit Ehre in Verbindung gebracht werden. Er hat u. U. in seinem Umfeld mancherlei Nachteile in Kauf zu nehmen und kann seinerseits an die Gemeinschaft kaum Forderungen stellen oder Hilfeleistungen erwarten.
Die Bedeutung der Ehre
Die „andere“ Ehre (arab. ‚’ird‘) betrifft das Verhältnis der Geschlechter zueinander und kann sich im Leben des einzelnen – vor allem einer Frau – viel dramatischer auswirken. Die Bedeutung dieser Art von Ehre kann kaum überschätzt werden. Ehre zu besitzen ist für jede Frau und jede Familie lebensnotwenig, ja im Konfliktfall steht ihr Wert höher als das Leben eines Menschen. Ein Mädchen kann nur verheiratet werden, wenn es seinen guten Ruf (seine Ehre) bewahrt hat; wird es als ehrlos betrachtet, wird es keine Ehe schließen können.
Auch ein Vater, der seine Tochter sehr liebt, wird sich unter gewissen Umständen dazu entschließen, ihr Leben zu opfern, um die Familienehre wiederherzustellen, da er ohne Ehre – und so wird er andernfalls in den Augen seiner Umwelt betrachtet werden – nicht leben kann. Ist die Ehre der Familie gefährdet oder verloren, scheint es für die Familie unmöglich zu sein, einen Ausweg zu finden, also die Ehre zurückzuerhalten und gleichzeitig das Leben der betroffenen Frau zu erhalten. Sie könnte sich ihrem sicheren Tod allenfalls durch Flucht entziehen, denn die Ehre muss unter allen Umständen wiederhergestellt werden.
Die Frau als Trägerin der Ehre
Die Frauen der Familie gelten als Trägerinnen der Ehre. Sie können die Ehre der Familie nur bewahren oder verlieren, aber sie können sie selbst nicht wiedergewinnen. Bleiben sie mit ihrem – von der Familie und Gesellschaft sehr klar definierten und kontrollierten – Verhalten innerhalb der vorgeschriebenen Bahnen, indem sie jeden Blick- und Sprechkontakt zu Männern außerhalb der Familie vermeiden, machen sie der Familie Ehre. Überschreiten sie diese Grenze und werden dabei beobachtet – öffentlich gewordenes Verhalten ist die Voraussetzung für Ehrverlust – haben sie die Ehre der ganzen Familie gefährdet oder beschmutzt und Schande auf die ganze Familie geladen. Hier spielt das Stammesdenken eine große Rolle, das die Frau als eine Art „Besitz“ betrachtet, über den ihr Herr Verfügungs- und Befehlsgewalt besitzt. Überschreitet die Frau also ihre Grenzen und bringt Schande über die Familie, heißt das umgekehrt für den Mann, dass die Männer der Familie nicht genug Stärke besaßen, diese Frau zu kontrollieren. Die Männer müssen jetzt aktiv werden, wollen sie sich nicht der Verachtung und dem Gespött der Gemeinschaft aussetzen. Die Ehrverletzung bedeutet also auch Auflehnung gegen die Gehorsamshierarchie zwischen Mann und Frau, gegen die nach den Stammesgesetzen unbedingt wirksam vorgegangen werden muss.
Die Männer können die Ehre der Familie durch ihr Verhalten nicht verlieren, sie können Ehre nur wiedergewinnen. Sie werden in ihrem Bewegungsspielraum daher weitaus weniger kontrolliert, und nur wenn sie für die Gemeinschaft sichtbar „über die Stränge schlagen“, wird ihr Verhalten missbilligt werden. Begehen sie einen Fehltritt, hofft man, dass man sie z. B. durch eine Eheschließung in gute Bahnen lenken kann. Eine Bestrafung werden sie aber nicht erhalten, da sie die Ehre der Familie nicht beschädigt und ihr keinen Schaden zugefügt haben. Dadurch entsteht der Eindruck, Männer und Frauen unterlägen in moralischer Hinsicht verschiedenen Maßstäben, was hinsichtlich der koranischen Beurteilung von Ehebruch und Unzucht allerdings nicht der Fall ist.
Die Wiederherstellung der Ehre
Ist bekannt geworden, dass eine Frau die Ehre der Familie verletzt hat, sind die Männer dieser Familie dazu aufgerufen, diese zu verteidigen oder wiederherstellen. Ging es um ein eher geringes Vergehen – z. B. ein Gespräch eines Schulmädchens mit einem Jungen im öffentlichen Raum – wird die Tochter vielleicht eingesperrt oder geschlagen oder von der Schule genommen, um der Umwelt zu demonstrieren, dass Vater und Brüder die nötige Stärke besitzen, das Mädchen unter Kontrolle zu bringen. Die Frauen müssen der Gesellschaft gegenüber ihre Ehre beweisen, die Männer Stärke und Durchsetzungsvermögen.
Im schlimmeren Fall wird das Mädchen vielleicht zu Verwandten fortgeschickt oder über Nacht verheiratet, um das Gerede zur Ruhe zu bringen. Im schlimmsten Fall wird der Familienrat beschließen, das Mädchen zu töten, also einen Mord aus „Gründen der Ehre“ zu begehen. Wurde die Ehre der Familie nämlich gänzlich zerstört – indem sich die Tochter z. B. mit ihrem Freund getroffen hat oder sogar schwanger ist – scheint Blutvergießen als einziger Ausweg. Meist wird für die Tat der jüngste Sohn der Familie bestimmt, um im Fall einer polizeilichen Untersuchung einen Minderjährigen langen Haftstrafen entziehen zu können. In der Türkei sind Ehrenmorde im ländlichen Bereich wohl in der Vergangenheit kaum je strafrechtlich verfolgt worden; im städtischen Bereich liegen die Dinge teilweise anders. Auch in Deutschland kommt es unter türkischen Migranten zu Ehrenmorden. Rund 40 Fälle sind in den letzten Jahren bekannt geworden, es mag aber auch noch eine Dunkelziffer geben, wenn Mädchen in die Türkei gebracht wurden.
Fazit
Männer und Frauen sind gleichermaßen Gefangene in diesem unbarmherzigen Konzept von Ehre und Schande, aus dem es für den einzelnen fast unmöglich ist auszubrechen.