Was ist islamischer „Fundamentalismus“?
Tief verschleierte Frauen, das Gesicht verhüllt bis auf einen kleinen Sehschlitz, die Hände auch im Sommer mit Handschuhen bedeckt, um sie herum eine große Kinderschar. Männer mit langen Bärten, die den Koran schwingen und „Gott ist größer“ (arab. „Allahu akbar“) schreien. Junge Männer, die bereit sind, für Allah in den Krieg zu ziehen und als Märtyrer des Islam zu sterben … – Sind das nicht häufige Vorstellungen, die in uns geweckt werden, wenn vom islamischen Fundamentalismus die Rede ist? Entsprechen sie der Wirklichkeit, oder sind es lediglich von Journalisten geschaffene Stereotypen?
Was macht den islamischen Fundamentalismus (oder: politischen Islam) aus? Welche persönlichen Enttäuschungen und welche Hoffnungen lassen einen Muslim zum Fundamentalisten werden, der dem Islam in seinem Umfeld auf politisch-gesellschaftlicher Ebene zur Durchsetzung verhelfen möchte?
Es wäre falsch, in jedem Fundamentalisten einen Befürworter von Gewalt zu sehen. Bei weitem nicht alle politisch denkenden Muslime sind Extremisten. Der Extremismus stellt nur ein Spektrum des Fundamentalismus dar. Zu den fundamentalistischen Gruppen, die sich teilweise auch dem bewaffneten Kampf verschrieben haben, zählen heute u.a. die Hamas unter den Palästinensern, die Hisbollah im Libanon , Teile der Muslimbruderschaft in arabischen Ländern und die islamischen Gemeinschaften in Pakistan. Bei aller Unterschiedlichkeit haben sie das gemeinsame Ziel, einen durch und durch vom Islam und seinen Gesetzen geprägten Staat aufzurichten, wie er von Muhammad und seinen Gefährten in Medina begründet worden war. Jene Zeit gilt für Fundamentalisten als das „Goldene Zeitalter“ des Islam, in dem Gott durch seine Offenbarungen an Muhammad sein Gesetz auf die Menschen herabgesandt hat. Durch Arbeit, gesellschaftlichen Einsatz, Kampf und Werbung für den Islam soll, wie der iranische Intellektuelle Ali Shariati (gest. 1977) sagte, dieses „Goldene Zeitalter“ – also die Gesellschaft von Medina des 7 Jh. n. Chr. – heute wieder hergestellt werden, damit überall Friede und Gerechtigkeit auf Erden herrschen – soweit das Ideal.
Ziel des Fundamentalismus ist es, dass es im islamischen Staat keine nationalen Grenzen mehr zwischen den einzelnen islamischen Ländern und Völkern gibt. Der Koran, die Worte und Taten Muhammads nach der Überlieferung (arab. sunna) und das daraus abgeleitete islamische Recht (die Sharia) sollen die einzige und allgemeine Rechtsgrundlage und Ordnung zur Gestaltung der Gesellschaft sein.
Leitende Prinzipien des Fundamentalismus
- Im islamischen Staat soll es eine einheitliche islamische Gesellschaft geben, die nicht in unterschiedliche Gruppen (Rechtsschulen, theologische Schulen) und Sonderbewegungen gespalten ist.
- Der wahrhaft islamische Staat soll durch einen berufenen Führer geleitet und nach außen hin repräsentiert werden, der das Amt des frühislamischen Kalifen fortsetzt.
- Der Koran, die überlieferte Gewohnheit Muhammads (arab. sunna) und das islamische Gesetz (arab. Sharia) sollen die Rechtsgrundlage des Staates und der Gesellschaft sein. Sie müssen allerdings durch islamische Gelehrte neu ausgelegt und interpretiert werden, so dass sie auf die heutige Zeit angewandt werden können.
- Der Islam muss fester Bestandteil aller Lebensbereiche sein, das gesamte Leben in Gesellschaft und Staat muss aus dem Islam heraus legitimiert werden können. Darum muss der Islam im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben der Muslime sichtbare Spuren hinterlassen.
- Manche Fundamentalisten lehnen alle Modernisierungs- und Reformbewegungen als „unislamisch“ ab.
- Der heute gelebte Islam wird als Kompromiss mit der Welt der Ungläubigen verstanden.
- Die Uneinigkeit der islamischen Rechtsgelehrten wird kritisiert, den meisten gegenwärtigen Staatsführern Kompromissbereitschaft und Korruption vorgeworfen.
Leiden an der Gegenwart
Mitglieder fundamentalistischer Gruppen leiden an der sozialen Ungerechtigkeit und an den wirtschaftlichen Krisen im eigenen Land. Sie sind von Arbeitslosigkeit und Verarmung betroffen. Ihr Leiden wird als unmittelbare Folge der Kolonialzeit aufgefaßt, die auch zu einem mangelnden Identitätsbewusstsein der Muslime und zu einer zunehmenden Säkularisierung der islamischen Länder geführt hat. Fundamentalisten fühlen sich den Einflüssen der westlicher Kultur ohnmächtig ausgeliefert und leiden unter der eigenen technologischen Rückständigkeit. Sie sind davon überzeugt, dass diese Negativfaktoren nur durch eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Islam überwunden werden können.
Eifer für Gott
Muslimische Fundamentalisten setzen sich mit idealistischem Eifer für die Errichtung dieses ganz und gar vom Islam geprägten Staates ein. Sie sind bereit, unter größten persönlichen Opfern – bis hin zum Tod – für dieses Ziel zu leben. Es ist ihre Lebensperspektive, beim Bau eines islamischen Staates mitzuwirken. Die Abneigung gegenüber dem Westen und seiner „unislamischen“ Gesellschaft wird häufig durch betont islamische Kleidung sowie durch das strenge Befolgen des islamischen Moralkodex zum Ausdruck gebracht.
Die Stärke und die Anziehungskraft fundamentalistischer Gruppen liegen darin, dass sie vielen Menschen in der harten Realität ihres Alltags Zukunftsperspektiven und Hoffnung vermitteln. Fundamentalistische Gruppierungen geben dem Einzelnen eine Identität und neues Selbstbewusstsein. Es muß allerdings gefragt werden, ob die idealistischen Programme der fundamentalistischen Gruppierungen der Probe der Realität standhalten und sich verwirklichen lassen, wenn z. B. behauptet wird, dass durch die strikte Befolgung des Islam in der Gesellschaft auch (gleichsam automatisch) wirtschaftliche und soziale Probleme gelöst werden würden (Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, Unterentwicklung, Überbevölkerung).
Es ist zu fragen, was einen Muslim zum Fundamentalisten werden lässt. Oft spielen persönliche Perspektivlosigkeit und Enttäuschung eine Rolle. Warum hat der Islam als „die beste und endgültige Religion“ nicht den erwarteten Aufschwung gebracht? Viele Fundamentalisten haben hohe ethische und moralische Ziele. Sie wollen das Los der Menschen im persönlichen Umfeld verbessern. Die sozialen Projekte fundamentalistischer Gruppen (Waisen- und Witwenrente, Bau von Schulen und Krankenhäusern u.ä.) sind teilweise beispielhaft. Tragisch ist es allerdings, wenn Menschen glauben, Muhammads Vorbild zu folgen, indem sie Gewalt und Terror über Unschuldige bringen und meinen, damit Veränderungen zum „Frieden“ herbeiführen zu können.
Die unpolitische Herrschaft Jesu Christi
Während Muhammad nicht nur religiöser, sondern auch politischer Führer seiner Gemeinschaft war, betonte Jesus Christus vor allem gegenüber den jüdischen Kräften, die sich durch ihn Befreiung vom harten Joch der römischen Unterdrückung erhofften (Apostelgeschichte 1,6), dass er nicht gekommen sei, um einen politischen Umsturz herbeizuführen (Johannes 18,36), obwohl er an der Ungerechtigkeit seiner Zeit litt. Durch das Leid und die Not seiner Mitmenschen zu Tränen gerührt, kümmerte er sich um die Kranken, die Schwachen und die Verachteten aus Liebe zu seinem Vater. Jesus verbesserte nicht nur das soziale Los der Menschen um ihn herum, sondern brachte auch Hoffnung in eine hoffnungslose Welt. Ganz deutlich lehnte Jesus – selbst schon vom Tod bedroht – den Einsatz von Gewalt zur Ausbreitung des Reiches Gottes ab (Matthäus 5,9; 26,52).