Gilles Kepel. Die neuen Kreuzzüge: Die arabische Welt und die Zukunft des Westens. München, Zürich: Piper, 2. Aufl., 2004, 400 S., 8,99 €.
Terroranschläge, Selbstmordattentate, Mißtrauen bis hin zur offenen Feindseligkeit – diese und andere negative Schlagzeilen beschreiben heute die Beziehung zwischen der islamischen Welt und dem Westen. Fast täglich scheint sich die Kluft zu vergrößern. Was sind die Ursachen für diese Feindseligkeiten? Ist der Zeitpunkt gar verpaßt, um diese Kluft überwinden zu können? Wie gefährlich ist die momentane Lage wirklich?
In seinem Buch „Die neuen Kreuzzüge“ geht Gilles Kepel diesen Fragestellungen nach. Der Lehrstuhlinhaber für die Erforschung des Nahen Ostens und des Mittelmeerraumes analysiert die Lage im Nahen und im Mittleren Osten und charakterisiert den Einfluß der neokonservativen Bewegung in den USA ebenso wie die Bedeutung der islamischen Bewegung in Europa.
Welchen Einfluß hat der islamische Fundamentalismus innerhalb der islamischen Gemeinschaft (arab. umma)? Findet er dort ausschließlich Sympathisanten vor oder gibt es auch ablehndende Stimmen? Handelt es sich bei den Terroranschlägen wirklich um eine Form des Dschihads oder haben Fundamentalisten einen Bürgerkrieg im Herzen der islamischen Gemeinschaft angezettelt? Um diese Frage zu klären, stellt Kepel die beiden arabischen Kernbegriffe „Dschihad“ und „Fitna“ einander gegenüber. Unter Dschihad versteht man im allgemeinen das Bemühen des Einzelnen oder der islamischen Gemeinschaft, den Geltungsbereich des Islam auszuweiten. Das kann den Missionseifer eines einzelnen Muslims bedeuten oder aber auch Kampf und Krieg, um so durch Eroberung oder Verteidigung den Geltungsbereich des Islam zu erweitern oder zu erhalten. Letztendlich geht laut Kepel aus der islamischen Glaubensgemeinschaft eine Zentrifugalkraft aus, die der Ausbreitung des Islams durch Koran (Mission) oder Schwert dient.
Während der Dschihad positive Auswirkungen auf die islamische Gemeinschaft – durch Erweiterung bzw. Bestandssicherung – hat, bewirkt die Fitna das genaue Gegenteil. Fitna steht für Krieg, Aufruhr oder Spaltung innerhalb der islamischen Gemeinschaft. Bei der Fitna handelt es sich um negative Kräfte, die zum Zerfall der islamischen Gemeinschaft führen können. Da ein falsch ausgerufener Dschihad zu einer Fitna werden kann, darf der Dschihad nach klassischer Auffassung nur von islamischen Gelehrten (arab. ulamas) nach genauer Analyse der Rechtslage ausgerufen werden. Zu Unrecht ausgerufener Dschihad erschüttert die islamische Gesellschaftsordnung und führt zu Aufruhr, Chaos und Auseinandersetzungen. Die Frage bleibt also, ob die Terrorbewegungen der Gegenwart eine Form des Dschihad oder der Fitna sind.
Kepel analysiert die politische, wirtschaftliche und soziale Lage im Nahen und im Mittleren Osten und untersucht die Ursachen für das Scheitern der Friedensverhandlungen von Oslo. Die Intifada sowie das Anwachsen politisch-islamischer Kräfte in Palästina (Hamas und Dschihad) lähmten die dortige Wirtschaft; Israel wurde weltpolitisch mehr und mehr isolliert. Der Untergang der Sowjetunion und ihres Machtbereichs und die sich daraus ergebende Neuordnung im Nahen und Mittleren Osten sind für Kepel Hauptursachen für das Scheitern der Friedensverhandlungen von Oslo und damit direkte Ursache für die heutige tiefe Kluft zwischen der islamischen und westlichen Welt.
In seiner Analyse der Situation im Nahen und Mittleren Osten schlägt Kepel eine Brücke von den Dschihadisten aus dem fernen Afghanistan bis zum Fall der Zwillingstürme in New York. Dabei spielt die Person des ägyptischen Ideologen von al-Qaida, Ayman al Zawahiri, eine entscheidende Rolle. Sein Weltbild und seine islamischen Werte- und Moralvorstellungen wurden durch den Islamismus zur Zeit Nassers und Saddats geprägt. Diese Form des Islamismus war kompromisslos, daher zog sie Verfolgung und staatliche Repressalien auf sich. Erst in dem Zusammentreffen mit Osama bin Laden und seinem durch den Wahhabismus geprägten Islam und seine finanziellen Möglichkeiten entwickelte sich eine internationale terroristische Stoßrichtung, die sowohl gegen den sog. „nahen“ als auch „fernen“ Feind gerichtet war. Diese Begriffe prägte al Zawahiri in seinem Buch „Ritter unter dem Banner des Propheten“.
Zu dem „nahen“ Feind zählt in erster Linie Israel aber auch alle arabischen Regierungen, die eine nicht von der Scharia geprägte Staatsform haben und darum von Zawahiri als korrupt bezeichnet werden. Zu dem „fernen“ Feind zählt in erster Linie die USA, aber auch beispielsweise die UNO. Ziel von al-Qaida ist es, den nahen und den fernen Feind zu vernichten. Am 11. September sollte der ferne Feind als Quelle allen Übels empfindlich getroffen und zugleich neue Sympathisanten von al-Qaida geworben werden. Dabei steht der Begriff al-Qaida (Basis) zunächst für eine Sammlung radikalisierter Gruppen und Einzelkämpfer, die sich an verschiedenen Orten der Erde auf den Dschihad vorbereiten. Laut Kepel ist es das Ziel von bin Laden und al-Zawahiri, einen Krieg innerhalb des Islam zu entfachen. Ziel ist ein weltweiter islamischer Staat und die Befreiung Palästinas.
In Bezug auf Europa analysiert Kepel das soziale und politische Klima in den Vorstädten der europäischen Metropolen und ihren muslimischen Migranten. Dabei wird Kepels detaillierte Kenntnis der islamistischen Szene in Europas besonders deutlich. Kepel weist auf die unterschiedlichen Kräfte hin, die in dem Milieu der Vorstädte um die Herzen und Gesinnung der Jugend werben, konservative Bewegungen wie die der Salafisten und Muslimbrüder. So gewinnt der Leser Einsicht in deren unterschiedliche Ideologien, die beide Gruppierungen über das Internet verbreiten. Erschreckend, mit welcher Naivität aber auch Ratlosigkeit Regierungen mit den unterschiedlichen radikalen Gruppen umgehen. Traurig aber auch, dass zwischen den Migranten, die schon oft Generationen in Europa leben und den Einheimischen keine Berührungspunkte bestehen und keiner auf den anderen zugeht.
Letztlich aber gibt Kepel die Hoffnung auf eine Aussöhnung und ein Zueinander finden der islamischen und westlichen Welt nicht auf, weil für den Autor die Zeit des Aufstiegs des Islamismus bereits vorüber ist. Kepel begründet dies damit, dass al-Qaida die breiten Massen nicht mobilisieren und die Mittelschicht und Intellektuellen nicht gewinnen konnte. Der Islamismus sei auch darum keine Lösung, weil sich die Lage der Palästinenser nicht verbessert hat. Nach Kepels Analyse sind aber auch die USA in ihrer Terrorbekämpfung gescheitert. Für Kepel ist die Aussöhnung zwischen den Kulturen nur dann zu erreichen, wenn die westlichen Kräfte bereit sind, auf Rechte und Wohlstand zugunsten von Ausgleich und Gleichheit mit der islamischen Welt zu verzichten. Darum stellt sich auch zugleich die Frage, ob Kepels Hoffnungsschimmer mehr ist als eine Utopie.
Das Buch „Die neuen Kreuzzüge“, von Gillea Kepel ist eine sehr detaillierte Darstellung der geschichtlichen Entwicklungen in Europa, der USA sowie der islamischen Welt. Sie setzt ein gutes geschichtliches Grundwissen voraus. Aber auch dann ist es zeitweise nicht einfach, den doch stellenweise sehr differenzierten Darstellungen und Argumentationslinien zu folgen. Es handelt sich dennoch um ein lesenswertes Buch, da es die Ereignisse, die mit dem 11. September in Verbindung stehen, durch eine gedanklich klare und von Polemik und Pankimache freie Darstellung behandelt.