Der Glaube an „Baraka“, Segenskraft oder Segensmacht, ist wohl überall in der islamischen Welt anzutreffen. Wenn der Koran von der Realität von Geistern und Dämonen (arab. „djinn“) ausgeht, die ständig allen Menschen Gutes oder Böses zufügen und nach Auffassung des Volkglaubens der „Böse Blick“ des Neiders jeden überall treffen und ihm großen Schaden bis hin zu Krankheit oder Tod zufügen kann, dann gilt die „Baraka“ als eine positiv wirkende Kraft zur Abwehr solchen Schadens. Die Baraka, die ein Mensch besitzt, kann abnehmen, er kann aber auch neue Segenskraft hinzugewinnen. Da die Vorstellungen, welchen Personen oder Gegenständen Segenskraft anhaftet und wie man sich ihrer bedienen kann, stark in den Bereich des Volksislam hineinreichen, hat es nicht an Versuchen islamischer Theologen (besonders sunnitisch-orthodoxer Prägung wie der saudi-arabischen Wahhabiten) gefehlt, besonders eigentümliche Vorstellungen des Volksglaubens allgemein und des Baraka-Glaubens insbesondere zurückzudrängen.
Baraka, so glaubt man, geht zwar von Gott aus, wird aber über bestimmte Personen oder Gegenstände weitergegeben. Die Segenskraft kann von einer Person auf seine Nachkommen weitervererbt werden und ist insbesondere auf die Nachkommen Muhammads übergegangen. Baraka haftet allen religiösen Gegenständen an wie Koranexemplaren oder islamischen Rosenkränzen. Auch die Gebetsnische (arab. mihrab) und die Kanzel für die Freitagspredigt (arab. minbar) in der Moschee sind mit Baraka behaftet. Alle Dinge, die von Menschen berührt wurden, die viel Baraka besaßen (wie die im Volksislam verehrten Heiligen), besitzen nun ihrerseits Segenskraft. Auch die „Nacht der Macht“ im Monat Ramadan, in der der Koran als Offenbarung auf die Menschen herabgesandt worden sein soll, ist von Baraka erfüllt.
Baraka bei Gräbern
Tote und lebende Personen können Baraka in unterschiedlicher Intensität besitzen. Der Leiter eines Mystikerordens, (ein „Shaich“ oder „Pir“) gibt die Segenskraft an seine Schüler weiter. Aber auch ein Heiliger (Mann oder Frau), der im Leben Träger der Baraka war, kann diese im Tod weitergeben. Sie geht auf die unmittelbare Umgebung seines Grabes über (auf eine Quelle, auf Steine, Bäume oder den Staub). Viele Menschen besuchen Heiligengräber, um dort der Segenskraft teilhaftig zu werden, indem sie das Grab umschreiten, sich dort aufhalten oder sogar am Grab übernachten, um dem Heiligen vielleicht im Traum zu begegnen oder auch Heilung bei Krankheit zu erfahren.
Baraka in und um die Ka’ba
Besonders viel Baraka findet der Gläubige in Mekka, in der Ka’ba und im höchsten Maß in der Nähe des Schwarzen Steins in der Ka’ba. Alle Pilgerfahrer versuchen, bei der Umschreitung der Ka’ba im Zuge der Riten der Pilgerfahrt den in der Ostecke eingelassenen Schwarzen Stein oder die nordöstliche Wand der Ka’ba zu berühren. Baraka enthält auch das Wasser aus dem Brunnen Zemzem im Vorhof der Ka’ba, das zur Behandlung von mancherlei Beschwerden und Krankheiten eingesetzt wird. Auch das schwarze mit Koranversen bestickte Tuch, das die Ka’ba bedeckt (die kiswa), wird jährlich durch ein neues ersetzt und das alte Tuch an die Pilger verkauft. Ihm haftet viel Baraka an, weil es ein Jahr die Ka’ba bedeckt hat.
Literatur
- Annemarie Schimmel. Die Zeichen Gottes. C. H. Beck: München, 1995.