Mit dem Begriff „Islamismus“ wird heute – insbesondere nach den Ereignissen des 11.9.2001 – vielfach islamischer Terrorismus assoziiert. Islamisten sind jedoch Muslime, die die Errichtung einer Gesellschaft auf den Grundlagen von Koran und Sunna anstreben (Sunna = islamische Tradition). Islamistische Gruppierungen gibt es in vielerlei Ausrichtungen und Schattierungen, die das Ziel der Islamisierung der Gesellschaft mit ganz unterschiedlichen Mitteln erreichen möchten: in und außerhalb der Familie durch ein vorbildliches Leben nach islamischen Grundsätzen, durch Werbung für den Islam (arab. Da‘wa), durch die Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten zur Stärkung des Islam als Religionsgemeinschaft der muslimischen Minderheit im Westen, durch Koran- und Literaturverbreitung, Moscheebau oder auch durch den Aufruf zum Kampf. Es gibt den sunnitischen Mehrheitsislam, die islamische Mystik der Meditation und der innerlichen Gottsuche, den Aktivisten extremistischer Organisationen (wie z.B. der Hizbollah) oder auch den iranischen Schiismus, für den die islamische Herrschaft nur unter der Führung des Imams herbeigeführt werden kann. Terrorismus ist eine kämpferische Variante des Islamismus, Islamismus jedoch nicht mit Terrorismus gleichzusetzen.
Der Islam ist eine alle Lebensbereiche umfassende Religion, die nicht nur die privaten Glaubensüberzeugungen bestimmt, sondern auch Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben und Leitlinien für politisches Handeln vorgibt. Nach negativen Erfahrungen mit Nationalismus, Sozialismus und Monarchie, etwa in Ägypten, Syrien oder Iran, sind sich viele Muslime darüber einig, daß der Islam die ideale Lösung für alle Probleme in allen Bereichen ist. Islamisten fordern, sich dem wahren, ursprünglichen Islam wieder zuzuwenden. In einer Besinnung auf den Islam könne Rückständigkeit überwunden und die Fesseln der westlichen Vorherrschaft abgestreift werden. Die Kreuzzüge, die Kolonialgeschichte, die mit den beiden Weltkriegen verbundene Aufteilung der arabischen Gebiete durch die Siegermächte, die Nationalstaatenbildung, die Auflösung des Osmanischen Reiches und Abschaffung des islamischen Kalifats waren mitbeteiligt an der Prägung einer negativen, feindlichen Grundhaltung gegenüber dem Westen, die man aus dem Islam heraus und den verurteilenden Aussagen des Korans über das Christentum (das mit dem Westen gleichgesetzt wird) zu bestätigen suchte. Auch die Forderung nach Wiedereinführung des Kalifats wurde in einigen Kreisen laut.
Seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine vielgestaltige islamistische Bewegung, die sich gegen den westlichen Einfluß, den Kolonialismus, das „Kreuzfahrertum“, die christliche Mission, das westlich-christliche Erziehungssystem, die „kulturelle Invasion“ des Westens und die dort vermutete „globale Verschwörung gegen den Islam“ wandte. Eigene Politiker und Machthaber islamischer Länder galten islamistischen Gruppen als Agenten des westlichen und östlichen Imperialismus. In den 70-er und 80er Jahren gewann das Konzept der Gründung des islamischen Staates auf den Trümmern der Nationalstaaten an Popularität. Einige islamistische Gruppierungen versuchten, die islamische Gesellschaft durch Ausübung von Druck durch Attentate, Entführungen und vereinzelt auch durch Ermordung von Politikern zu erreichen. Besonders Gewicht bekam die Frage der eigenen islamischen Identität und die Wahrung der islamischen Gemeinschaft. Eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Islam wurde gefordert, eine Reinigung von allen „Neuerungen“, von unislamischen Elementen. Die Hauptstoßrichtung war dabei eigentlich nicht der Westen selbst, sondern die Reformierung der islamischen Gesellschaft.
Der islamische Glaube findet seinen Ausdruck in der Befolgung der fünf Säulen des Islam, dem Bekenntnis zu dem einen Gott und dem Prophetentum Muhammads, dem fünfmal täglichen Gebet, dem Fasten, dem Spenden bzw. der Wohltätigkeit und der Wallfahrt nach Mekka. Viele islamistische Gruppierungen sind heute nicht politisch in dem Sinne tätig, daß sie aktiv einen Umsturz planen, sondern außer der Propagandaarbeit für den Islam mit praktischen Hilfeleistungen das in ihren Ländern zumeist wenig tragfähige soziale Netz ersetzen, das hierzulande der Staat gewährleistet. Sie unterhalten z.B. Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Sportvereine oder vergeben Stipendien zur Ausbildungsförderung.
Auch in Europa übernehmen islamistische Gruppen mit Sportvereinen für muslimische Jugendliche oder sozialen Hilfsangeboten für muslimische Frauen und Familien ein oft wichtiges Stück der sozialen, religiösen uns kulturellen Betreuung der Migranten. Ein großer Teil des Zulaufs und der Anhängerschar begründet sich aus diesen Angeboten und weniger in erster Linie aus religiös-politischen Überzeugungen. Das gilt für Europa ebenso wie für die islamischen Länder. In Deutschland geht mit den Sport- und Freizeitangeboten oft eine religiöse Beeinflussung bis zum „Einschwören“ auf islamische Werte Hand in Hand, die die Distanz zur westlichen Gesellschaft vergrößert statt Grundlagen für den Dialog zu schaffen.
Nicht in jedem einzelnen Fall, aber oftmals stehen hinter diesen Einrichtungen extremistische Gruppierungen mit Verbindungen in die jeweiligen Heimatländer. Aber auch unter ihnen gehen die Vorstellungen von einem idealen islamischen Staat und wie dieser durchzusetzen ist, oft stark auseinander. Tiefgläubigkeit und Konservatismus müssen nicht für eine Befürwortung von Militanz, extremistischem, staatsgefährdendem Verhalten oder Ablehnung von westlicher Demokratie und Grundgesetz stehen. Die Vorstellungen reichen bei Islamisten von einem auf Scharia (der islamischen Gesetzgebung) und Koran begründetem Staatsmodell über unzählige Varianten bis hin zu demokratischen Vorstellungen, nach denen der Islam Basis für eine integrative Staatsform mit Anerkennung der demokratischen Grundordnung ist.
Ein seit dem 11. September 2001 zentrales Bedürfnis ist die Einstufung und Zuordnung von Muslimen und muslimischen Gruppierungen. Nicht selten sind ein bärtiger Mann oder eine verschleierte Frau mit Terror und Extremismus assoziiert worden. Ängste und pauschale Ablehnung können durch das persönliche und intensive Befassen mit der Kultur und dem Denken der „anderen“ reduziert oder sogar überwunden werden. In Deutschland sind Muslime integraler Bestandteil unserer Gesellschaft geworden, der nicht mehr wegzudenken ist. Hier leben über 3 Mio. Muslime. Eine Minderheit gehört zu einer extremistischen Organisation.
Transparenz und mehr Offenheit könnte grundsätzliches Mißtrauen abbauen und ein gleichberechtigtes Miteinander in gegenseitigem Verständnis und Respekt begründen. Dazu gehört der Wille beider Seiten, durch einen ehrlichen, offenen Austausch einen wichtigen Schritt aufeinander zu zu gehen.