Eine Rezension über: Necla Kelek. Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2006. 218 S. ISBN 3-462-03686-6. 18,90 Euro.
Nach ihrem Aufsehen erregenden, zuerst von der türkischen Presse und danach von deutschen Migrationsforschern heftig angegriffenen Buch über die so genannten türkischen Importbräute „Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“ (Köln: Kiepenheuer & Witsch, inzwischen in 7. Aufl.) legt die türkischstämmige Hamburger Soziologin Necla Kelek nun das Pendant zu ihrem Frauenbuch vor – ein Männerbuch.
Unser Blick gilt ja – zu Recht – primär den Opfern, oder die, die wir dafür halten: den muslimischen Mädchen und Frauen. Die Stellung und Behandlung von Frauen und nichtmuslimischen Minderheiten ist ja in der Tat eine der wichtigsten Fragen, die an die islamische Gemeinschaft zu stellen sind, der „Lackmustest“ für das Angekommensein in einer demokratischen Gesellschaft, die auf der Gleichheit aller Glieder basiert. In unserer zumeist dualistischen Weltsicht unterscheiden wir zwischen gut und böse, Opfer und Täter. Denn wo ein Opfer ist, muss auch ein Täter sein. Der aber ist für uns schnell ausgemacht: der muslimische Mann per se, der Tyrann, Diktator, Macho. Es ist das große Manko von „Frauenbüchern“, dass sie in der Regel diesen platten Dualismus verinnerlicht haben und weiter pflegen.
Nun aber zeigt uns Necla Kelek, die in Integrationsfragen inzwischen auch von Politikern zu Rate gezogen wird, eine neue Seite des vermeintlich allmächtigen Unterdrückers: den „Herrscher, der auf seinem Thron gefangen ist“ (S. 16). Gleich zu Beginn gesteht sie einen Irrtum ein, dem sie selbst angehangen ist und viele noch anhängen, dass nämlich die Frage der Integration letztlich nur eine Frage der Zeit sei. Integration wurde und wird von vielen Politikern und so genannten Gutmenschen als ein fast automatisch ablaufender Prozess gesehen, der unaufhaltsam und unumkehrbar Immigranten sich von ihrer Herkunftskultur lösen und am Westen orientieren lässt. Dabei aber hätten sie die „kulturelle Dimension des Muslim-Seins“, die Macht des islamischen Weltbildes und die Gemeinschaftszugehörigkeit „sträflich unterschätzt“. Diese hätte sich eben nicht aufgelöst, sondern im Gegenteil unter muslimischen Migranten ausgebreitet und eine Gegenidentität und -kultur legitimiert, die sich im Wertesystem der Familie als einem hermetisch abgeschlossenen Machtsystem und der islamischen umma, beide beherrscht von Männern, manifestiere.
Dieses Buch spricht offen die Fragen aus, die entnervte Pädagogen bislang kaum äußern durften, wollten sie sich nicht den Vorwurf des Rassismus zuziehen, nämlich warum muslimische Jungen so oft Schulversager sind, gewaltbereit und überproportional in Gefängnissen vertreten. Durch ihre Recherchen und Interviews begriff Kelek die Männer-Täter zunehmend ebenfalls als „Opfer“ der muslimisch-patriarchalischen Verhältnisse, der starren Gebote einer archaischen Männerrolle und eines verpflichtenden Selbstbildes, das ihnen letztlich keinen eigenen Entscheidungsspielraum lässt.
Wer also feministische Schelte gegen Männer erwartet hat, wird enttäuscht. Nach ihrem Buch für die islamische Frau schreibt Kelek nun nicht gegen den islamischen Mann. Vielmehr zeichnet sie die Menschen als solche, die zwar mit ihren Füßen in die Fremde aufbrechen, aber im Kopf nie ihr Dorf verlassen, sie zeigt die von der deutschen Gesellschaft kaum wahrgenommene unauflösbare Verbindung zwischen dem türkischen Dorf und dem Leben in der deutschen Diaspora. Die auch in Deutschland gelebte innere Welt äußert sich vor allem in einem anderen Wertesystem, das vergleichbar ist mit einem anderen Koordinatensystem: Empfinden von Recht und Unrecht, von persönlicher Verantwortung und Schuld, die Erwartungen der Familie, hierarchisches Denken, Traditionen der Stammeskultur, deren Sinn niemals hinterfragt wird, aber Denken und Handeln bestimmen, Traditionen, die teils strenger als die Vorschriften des Koran sind, wie Blutrache und Vergeltung, die das normale Leben zum Erliegen bringen können. Dazu schildert sie Prägungen durch Gewalterfahrungen durch das türkische Militär. Den „Abi“, den ältesten Bruder, der das Recht der Entscheidung über seine Geschwister hat und dies oft genug radikal ausnutzt, sehen wir als den, der selbst nie eine Kindheit hatte, sondern gleich Verantwortung übernehmen musste.
Kelek theoretisiert nicht, sie lässt Lebensgeschichten erzählen: beeindruckende und bedrückende Gespräche mit türkischen Männern im Gefängnis, die das Ausmaß des Gefangenseins dieser Männer sichtbar machen, Lebensgeschichten, die man so noch nie gelesen hat. Sie verurteilt nicht, aber sie rechtfertigt auch nicht die Taten dieser Männer, etwa weil sie eben eine schwere Kindheit gehabt hätten, von Verwandten fremdgesteuert würden oder den Gesetzen ihrer Kultur und Religion folgten. Sie öffnet Fenster des Zuhörens, des Verstehens – und nur über den Zugang zu den Herzen erwächst die Möglichkeit der Veränderung. Denn sie lässt keinen Zweifel daran, dass Veränderung notwendig ist.
Ein Satz ihrer Gesprächspartner kommt immer wieder vor, nämlich dass diese Männer Keleks Fragen nicht verstehen. Fragen nach Gefühlen, persönlicher Entscheidung über richtig und falsch, Verantwortung für das eigene Handeln, Reflexion über Traditionen – das alles liegt außerhalb des Denkhorizonts vieler dieser Männer – und es lässt ahnen, warum der Dialog und die Integration so schwierig sind.
Weiß man nach diesem Buch nun, wie „der“ türkische und/oder muslimische Mann an sich ist? Dies wäre voreilig und fatal. Dass auf den ersten hundert Seiten nur Gesprächspartner aus dem Gefängnis zu Wort kommen, mag zunächst befremden. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass ihr Buch überhaupt von „Gefängnis-Geschichten“ im übertragenen Sinn handelt, vom Gefangensein in einem kollektiven Bewusstsein. Gegen die Auswahl von Biographien aus den östlichen und sehr traditionsverhafteten Gegenden der Türkei mag man einwenden, diese seien keineswegs repräsentativ für muslimische Männer. Das ist richtig. Schließlich gibt es türkische und muslimische Intellektuelle aus städtischem Milieu, die durchaus in der Lage sind, ihre eigene Kultur – und die deutsche! – kritisch zu reflektieren, sowie genügend andere äußerst erfolgreiche männliche Migranten. Aber das Buch erhebt nicht den Anspruch einer empirisch-repräsentativen Bestandsaufnahme, sondern folgt der qualitativen Sozialforschung – es sind Lebenswege, oder vielmehr: Lebenssackgassen, die betroffen machen, und es ist ein erstes Fenster in eine weitgehend unbekannte Welt.
Auf den letzten Seiten ihres Buches schreibt Necla Kelek über Menschen und Ideen, die sie auf ihrem „Weg zum Ich“ prägten – einer davon ist Jesus. Sie stellt seine Feindesliebe den Gewaltstrukturen des Islam gegenüber und zeigt ihn als den, der ihr in der Phase ihrer äußeren und inneren Ablösung von der türkisch-islamischen Kollektivkultur Selbstvertrauen gegeben und zur Ich-Findung geholfen hat. So wie ihre Geschichten von den verlorenen Söhnen paradigmatisch waren, so ist auch ihre sehr persönliche Lebensgeschichte paradigmatisch. Wohl nicht alle werden wie sie den Weg über die deutsche Philosophie wählen. Damit aber zeigt sie die geistigen Wurzeln Europas auf – und das, was in der türkisch-islamischen Kultur, einer über Jahrhunderte hinweg „versiegelten“ Kultur, der Integration entgegensteht. So fordert sie als erstes die Ächtung der Scharia und des Prinzips der Vergeltung als Grundlage der Blutrache. Zwar bezeichnet sie die deutsche Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte zu Recht für verfehlt, aber sie stellt ihre Forderungen auch an ihre eigenen Leute: Sie sollten Deutschland als ihre wahre Heimat annehmen, sich nicht ständig als Opfer sehen und müssten Kritik ertragen lernen. Und sie wirbt bei den Migranten darum, das „Theater“ ihres traditionellen Lebens mit feststehenden Rollen und Texten zu verlassen, um zu sich selbst zu finden und ein freies und liebendes Leben zu leben.
Darum ist dieses Buch kein Blick zurück in Wut und Verachtung, keine Abrechnung mit dem alten Leben, womit sich manche andere profilieren, sondern ein Blick nach vorne, für ein besseres Miteinander von Deutschen und Zuwanderern und für ein reicheres, eigenbestimmtes und eigenverantwortliches Leben von Migranten. Und auch wenn wir Deutschen eigentlich nicht so recht wissen, was denn nun unsere Kultur und unsere Werte seien – vielleicht ist es gut, wenn uns das von jemandem gesagt wird, der, weil aus einer anderen Kultur kommend, einen schärferen Blick für das hat, was erstrebenswert in diesem Land ist.