Rezension: Helga Baumgarten. Hamas: Der politische Islam in Palästina

Bärbel Debus

Helga Baumgarten. Hamas: Der politische Islam in Palästina. München: Diederichs im Heinrich Hugendubel Verlag: München, 2006, 256 S., 19.95 €.

Wer ist die Hamas? Welcher am Geschehen in der islamischen Welt interessierte Leser hat sich noch nicht diese Frage gestellt? Wer die Entwicklung des politischen Islam und das Alltagsgeschehen in Palästina verstehen will, kommt an einer Beschäftigung mit der Hamas nicht vorbei.

Helga Baumgarten vertritt die Auffassung, dass die Hamas mehr als nur eine Terrororganisation ist. Sie begründet ihre Meinung mit einer Analyse der Schriften der Hamas, der Hamas-Charta von 1988, dem Wahlprogramm von 2006 und mit Interviews mit Hamas-Angehörigen. Der Frage, wo die Hamas ihre geschichtliche Wurzel hat, wird ebenso nachgegangen, wie den Beweggründen für das politische und gesellschaftliche Handeln der Hamas und ihren Zielsetzungen.

Wer könnte für diese Aufgabe geeigneter sein als Helga Baumgarten, die als Politikwissenschaftlerin seit 1993 an der Birzeit Universität in Ramallah lehrt und seit Jahren in Palästina lebt und arbeitet? In ihrer Arbeit hat sie sich auf die unterschiedlichen politischen Systeme der arabischen Welt und ihre Demokratie- und Widerstandsbewegungen spezialisiert.

Der Begriff „Hamas“ ist ein Akronym und bedeutet einerseits „Harakat al Muqawama al Islamiyya“ (Islamische Widerstandsbewegung), außerdem bedeute das arabische Wort „Hamas“ aber auch „Eifer“ oder „Bemühen“. Seine Wurzeln hat die Hamas in der Muslimbruderschaft, die 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten u. a. als Reaktion auf die erlittenen Demütigungen unter der britischen Besatzung gegründet wurde. Heute ist die Muslimbruderschaft eine Organisation, die in der gesamten arabischen Welt und im Westen mehr oder weniger stark Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Leben der Muslime nimmt. Eines der Hauptziele der Muslimbrüder in Ägypten war schon früh die Befreiung der unterdrückten palästinensischen Glaubensgeschwister. So ist nicht verwunderlich, dass Said Ramadan im Jahre 1945 in Jerusalem einen palästinensischen Zweig der Muslimbrüder gründete. Im Laufe ihrer Geschichte betrachteten sich die Muslimbrüder sowohl im Kampf gegen den externen Feind (die Kolonialherren) als auch gegen den internen Feind (Landsleute, die im Dienst der Besatzer standen und damit als Imperialisten galten).

Durch die Gründung des Staates Israel und die Teilung Palästinas in das Westjordanland und den Gazsatreifen nahm die Entwicklung der Muslimbrüder in beiden Landesteilen, bedingt durch die politischen Gegebenheiten, einen unterschiedlichen Verlauf. Aus politischem Kalkül versuchte die israelische Regierung, sich die Muslimbruderschaft bei der Schwächung der kommunistischen und nationalistischen Parteien (insbesonders de PLO) zu Nutze zu machen.

Helga Baumgarten beschreibt ausführlich die Geschichte der Hamas von 1967 bis zu ihrem Wahlsieg im Januar 2006. In der Zeit der israelischen Besatzung (1967-87) gelang es den Muslimbrüdern, eine gut funktionierende islamisch geprägte Infrastruktur aufzubauen. Dazu gehörten ganz wesentlich der Ausbau von Moscheen und die dazugehörige Ausbildung von Predigern. Ziel der Muslimbrüder war es, den Islam durch Lehre, karikative Arbeit und Bildungseinrichtungen zu verbreiten.

Im Dezember 1987 ging die Hamas aus der Bewegung der Muslimbruderschaft hervor. Eine wesentliche Figur des Widerstandes war der im Jahr 2004 von der israelischen Armee getötete Scheich Ahmad Yassin, der Gründer und intellektuelle sowie religiöse Führer der Hamas. Er wurde zu einer charismatischen Führungspersönlichkeit im Kampf gegen Israel. Die Zeit von 1988 bis 1992 war von Spannungen zwischen der Hamas und der israelischen Regierung geprägt. Es kam beiderseits zu Gewaltaktionen, die wiederum mit Gewalt beantwortet wurden. Das Manifest der Hamas lässt keinen Raum für das Existenzrecht Israels.

Die Hoffnung der Palästinenser auf ein Ende der Besatzung und eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen wurde durch das Scheitern des Osloer Prozesses enttäuscht. Der Zeitraum von 1993 bis 2000 war wieder durch Eskalationen der Gewalt charakterisiert. Einen ihrer Höhepunkte fanden diese nach Meinung der Autorin in dem „Hebron Massaker“ des Baruch Goldstein am 25.02.1994 und den anschließenden Unruhen, Straßenschlachten und Selbstmordattentaten von Palästinensern und Hamas-Aktivisten.

Durch das Scheitern des Osloer-Prozesses stand die Hamas vor der politischen Entscheidung, von ihrer maximalen Forderung abzurücken, nämlich ein Palästina in den Grenzen von vor 1948 zu schaffen und einer Interimslösung zuzustimmen, d.h. der politischen Realität nach 1967. Dabei zeigte die Hamas Bereitschaft, konstruktiv zur Konfliktlösung beizutragen und die gegebenen politischen Realitäten anzuerkennen. Die Entscheidung, der Gewalt abzuschwören und als Partei ein Teil der Politik zu werden, nahm nach Auffassung der Autorin in den Jahren von 2000 bis 2005 konkrete Züge an.

Trotz des immensen Widerstands von Seiten Israels entschied sich die Führung der Hamas im Jahr 2004, an den Kommunalwahlen und schließlich auch an den Parlamentswahlen teilzunehmen. Diese führten zu einem erdrutschartigen und in westlichen Staaten nicht erwarteten Sieg der Hamas. Was aber machte den Wahlkampf der Hamas zu etwas Besonderem?

  • Der Hamas gelang es, einen effektiven Wahlkampf zu führen, ungeachtet des Widerstands Israels.
  • Die Hamas entwickelte sich nach Meinung der Autorin von einer Organisation, die durch Gewalt und Selbstmordattentate (fan il maut = die Kunst des Todes) gekennzeichnet war, zu einer Partei. Dies verlieh der Hamas Glaubwürdigkeit unter der Bevölkerung. Sie gewann die Erkenntnis, so die Autorin, dass eine Anerkennung Israels letztlich auch dem Wohl der Palästinenser dient.
  • Die Volksnähe der Hamas zeigte sich anhand der auf Bürgerversammlungen angebotenen Diskussionsforen. Besonders hervorgehoben wird die Unbestechlichkeit der Hamas, durch die sie sich besonders von der Fatah abgehoben haben soll.
  • Die Hamas setzte sich für die Belange und das Wohl der Bevölkerung ein. Dies führte dazu, dass auch liberale, nicht religiös geprägte Palästinenser von der Hamas mobilisiert wurden und zu den Wahlurnen gingen.

Über den Israel- Palästina-Konflikt und die damit verbundenen politischen Auseinandersetzungen ist schon viel publiziert worden. Warum sollte der Leser gerade zu diesem Buch greifen? Eine Stärke dieses Buches ist die Übersetzung von Originaltexten, wie die Gründungscharta der Hamas und ihr Wahlprogramm von 2005. Zudem führte die Autorin Interviews mit Hamas-Aktivisten, die ihr möglich waren, weil sie jahrelang in dieser Region lebte und persönlich die israelische Besatzung und die Einflussnahme von Hamas und Hizbollah auf das Alltagsleben in Palästina miterlebte. Helga Baumgarten, für die die Hamas mehr als eine Terrororganisation ist, appelliert an den Leser, althergebrachte Standpunkte neu zu reflektieren. Dazu lädt auch das ausführliche Schlagwort-, Personen-, und Ortsverzeichnis am Ende des Buches ein. Durch die leicht verständliche Sprache spricht das Buch eine breite Leserschaft an, das kein Fachbuch für den belesenen Orientalisten ist.
Das Buch macht nach Meinung der Autorin deutlich, dass der Wahlsieg der Hamas ein Zeichen dafür ist, dass sich innerhalb der arabischen Welt eine eigenständige islamische Kultur entwickelt. Diese gründe auf nationaler Eigenständigkeit einerseits und auf dem gemeinsamen islamisch- religiösen Erbe andererseits. Durch die Mischung von religiösem und patriotischem Gedankengut entstehe eine Gegenkultur zur westlichen Welt. Die Hamas habe sich zu einer Partei mit einem Wahlprogramm entwickelt, dass zum Nachdenken und Diskutieren anrege.

Letztlich werde die EU an einer Auseinandersetzung mit der Hamas nicht vorbeikommen, da sie sich einen festen Platz zwischen der Fatah, der PLO und den linksgerichteten Kräften der palästinensischen Parteien erkämpft habe. Die Autorin hebt in diesem Zusammenhang das Sozialprogramm der Hamas hervor (Moscheen mit sozialen Einrichtungen, Errichtung von Schulen, Krankenhäusern, Bildungseinrichtungen u.ä) sowie das moderne Wahlprogramm mit seinen sozialen, politischen und ökonomischen Reformen.

Die Hamas selbst betrachtet sich als eine Organisation zur nationalen Befreiung Palästinas. Dies sei nicht nur ein nationaler, sondern letztlich ein „gottgewollter Auftrag“, denn durch die Hamas sollen Menschen zum „wahren“ Islam zurückgerufen werden. Ziel der Hamas sei eine Beendigung der fortbestehenden Besetzung Palästinas und nicht die Vernichtung Israels. (Würde das aber, nimmt man die Charta ernst, nicht letzlich doch die Vernichtung Israels bedeuten?)

Eine deutliche Schwäche des Buches ist, dass kritische Fragen gegenüber der Hamas vollkommen ausgeklammert bleiben. Dazu würde z.B. ein kritisches Hinterfragen der Selbstmordanschläge gehören, anstatt diese lediglich als Reaktionen auf Provokationen oder auf das Hebron-Massaker des Baruch Goldstein zu erklären. Eine gewisse Sympathie für die Hamas und die Belange und Forderungen der Palästinenser ist nicht zu leugnen. Dem Leser stellt sich abschließend die Frage, ob der Traum vieler Menschen auf beiden Seiten von einer friedlichen Koexsitenz mehr werden könnte als ein Traum oder sich am Ende doch noch als Albtraum entpuppt.