Schiitische Ashura-Feiern: Erlösung durch Buße und Leiden

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Besondere Erwähnung verdienen die wichtigsten schiitischen Feiertage im Monat Muharram, die Ashura-Feierlichkeiten. Ashura steht für den schiitischen Glauben an das Leiden und das Opfer des Gerechten – ein Gedanke, den die sunnitische Theologie so nicht kennt. Dort wird insbesondere die christliche Auffassung eines Opfertodes Jesu am Kreuz abgelehnt und verneint, dass durch stellvertretendes Leiden Erlösung geschehen kann. Leiden im Diesseits ist nach sunnitischem Verständnis allenfalls eine Prüfung des Gläubigen und unhinterfragbares Handeln des Allmächtigen, kann aber keine Erlösung bewirken.

Kernpunkt der Ashura-Feierlichkeiten im Monat Muharram ist das Gedenken an den Märtyrertod al-Husains. al-Husain war der Enkel Muhammads und der Sohn ’Alis, des vierten Kalifen (Nachfolgers Muhammads) und der letzte männliche Nachkomme Muhammads in direkter Linie. Im Jahr 680 n. Chr. unterlag er in der Nähe der Stadt Kerbela im Kampf gegen ein von Sunniten angeführtes Heer. Schiiten aus der Stadt Kufa hatten al-Hussain nicht im Kampf beigestanden, sondern ihn gegen die sunnitische Übermacht im Stich gelassen, so dass er gegen die Übermacht erlag. Mit al-Husains Tod verfestigte sich die „unrechtmäßige“ Übernahme des Kalifats durch die sunnitische Mehrheit für viele Jahrhunderte.

Die Bedeutung des Leidens

Der Prophetenenkel al-Hussain, nach schiitischer Auffassung der Unschuldige – ja, der Sündlose – litt Unrecht und Tod, damit die „Unrechtmäßigen“ zur Herrschaft gelangen konnten. Mit der Schlacht von Kerbela 680 kamen die jahrzehntelangen Versuche der Schiiten, doch noch die Herrschaft über die muslimische Gemeinschaft zu erringen, zum vorläufigen Ende und die Hoffnung der Schiiten auf eine Übernahme des Kalifats zerbrach. Daher hat der Tod al-Husains als designierter schiitischer Herrscher bis zum heutigen Tag für die schiitische Gemeinschaft so große Bedeutung, die in den aufwendigen Ashura-Feierlichkeiten ihren Ausdruck findet.

Mit dem Sterben al-Husains wird auch der Leiden der Imame (der geistlichen Führer der schiitischen Gemeinschaft) gedacht. Die Imame sind aus schiitischer Sicht alle den Märtyrertod gestorben und haben damit als Gerechte stellvertretend für die Ungerechten gelitten. Sie leisten jetzt bei Gott Fürsprache und verkürzen so das Leiden des Gläubigen. Wenn der Gläubige bei den Ashura-Feierlichkeiten um den Märtyrer weint, erklärt er sich damit auch selbst bereit, das Martyrium auf sich zu nehmen, so wie al-Hussain. Der Märtyrergedanke ist also mit der schiitischen Theologie aufs Engste verbunden.

Zugleich wird die Klage über die heutige benachteiligte Lage der schiitischen Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht, über ihre Position einer religiösen Minderheit und ihr Leiden unter der „ungerechten“ sunnitischen Herrschaft. Daher haben die Trauerspiele auch Bezüge zur heutigen Situation der schiitischen Gemeinde, die überall außerhalb des Irans in einer benachteiligten Position ist. Sie sind zugleich Ausdruck der Hoffnung auf eine bessere (schiitische) Zukunft, in denen die schiitische Gemeinschaft nicht mehr von „Usurpatoren“ regiert wird. Vergangenes und gegenwärtiges Leiden gehören zum schiitischen Selbstverständnis. Ignaz Goldziher formuliert: „Der richtige Schi’it ist verfolgt und elend wie die Familie, für deren Recht er einsteht und leidet.“

Die Trauerspiele

Die Feierlichkeiten dauern die ersten zehn Tage des Monats Muharram. Schlichte, oft schwarze Trauerkleidung, Versrezitationen, die vom Leiden al-Husains sprechen, Trauerlieder, Theateraufführungen, Straßenprozessionen und Selbstgeißelungen mit Schwertern oder Ketten, bei denen viel Blut vergossen wird, gehören zu den Feierlichkeiten. Kettengeißler peitschen sich als Zeichen der Trauer über das Martyrium der Imame und der Trauer über die eigene, bemitleidenswerte Lage als Unterdrückte die freien Schultern mit Ketten. Die dritte Gruppe sind Säbelgeißler, die sich mit Schwertern auf den Kopf und an die Stirn schlagen , bis sie stark bluten und in Ekstase und Trance geraten. Wer sich nicht verletzt, schlägt sich rhythmisch an die Brust oder die Stirn und nimmt so am dargestellten Leiden Anteil. Mit dem Leiden durch Blutvergießen wird das Leiden al-Husains nachgeahmt, und wer das tut, erhält an seiner Erlösung Anteil. al-Husain leidet willig und opfert sich für Gott. Ebenso werden die Darsteller der Passionsspiele als „Leichname“ dargestellt, als zu Unrecht Ermordete. Die emotionale Darstellung von Leid, Schmerz und Blutvergießen nimmt dabei großen Raum ein.

Das Ashura-Ritual ist zugleich aber auch ein Bußritual, mit dem der Gläubige seine unermeßliche Schuld abträgt, die darin besteht, dass er – und Teile der schiitischen Gemeinschaft – sich nicht im Jahr 680 zusammen mit al-Hussain bei Kerbela geopfert habent. Schon 684 sollen die ersten „Büßer“ das Grab al-Husains besucht und Sühne für ihre Treulosigkeit im Jahr 680 gesucht haben. Dieser Gedanke ist bis in die Gegenwart lebendig:

„Nach dem Tode von Ayatollah Khomeini konnte man im Fernsehen aus irakischer Kriegsgefangenenschaft heimgekehrte iranische Soldaten sehen, die auf Knien zu seinem Grab rutschten und weinend um Vergebung dafür flehten, dass sie nicht gefallen waren.“

Die Aufführung der Trauerspiele gilt als verdienstvoll, aber auch die Zuschauer sind nicht passiv, sondern eigentlich am Spiel Beteiligte. Das Vergießen von Tränen um die Leidenden macht sie wohlgefällig vor Gott: „Die um ihretwillen vergossenen Tränen haben geradezu einen charismatischen Wert. Sie sind … eine Bedingung für das persönliche Heil des Schi’iten. Jeder Sünder muß im Laufe seines Erdenlebens zumindest eine Träne für al-Husain vergossen haben. Die Gnade, die dadurch erworben wird, ist um so größer, wenn sich zu dem Weinen auch noch Blutvergießen gesellt.

Durch die Theatervorführungen, die das Leiden und Sterben al-Husains darstellen, geraten nicht nur die Schauspieler in Ekstase, sondern auch das Publikum. Sie streuen sich als Zeichen von Trauer und Verzweiflung Staub auf den Kopf, manche zerreißen ihre Kleider, brechen in Tränen aus und bringen sich selbst Schläge und Verletzungen bei. Sie nehmen Anteil am Leiden al-Hussains und bitten um Vergebung für ihre eigenen Sünden und die der schiitischen Gemeinschaft. Die Darsteller der Feinde al-Husains sollen manchmal vom Publikum ergriffen und erschlagen worden sein. Auch heute sind im Verlauf der Spiele immer wieder Todesopfer zu beklagen. Nicht selten entstanden an Orten mit gemischt sunnitisch-schiitischer Bevölkerung Aufruhr, wenn die schiitischen Gläubigen bei den Feierlichkeiten die drei ersten, nach ihrem Verständnis unrechtmäßigen Kalifen verfluchten.

Der Grabschrein al-Husains in Kerbela rund 100 km südwestlich von Bagdad ist einer der wichtigsten schiitischen Wallfahrtsorte. Auch dieses Gebiet darf wie Mekka und Medina von Nichtmuslimen nicht betreten werden.

Leiden – nur ein christlicher Gedanke?

Nach einer Husainlegende kann nur al-Husain im Gericht für die gläubigen Muslime Fürbitte leisten und nicht Muhammad, denn al-Husain hat das größte Leiden erduldet. Im Passionsspiel bittet sogar Muhammad al-Husain um Fürbitte am Tag des Gerichts. Damit erhält al-Husain durch sein Leiden eine unmittelbare Erlöserfunktion für die Ewigkeit.

Dieses Nachempfinden eines freiwilligen Blutopfers für andere Menschen könnte an die Kreuzigung Jesu erinnern. Allerdings sind auch bedeutende Unterschiede zum biblischen Verständnis der Opferung Jesu am Kreuz festzustellen. al-Husain mußte nicht sterben, weil Menschen durch ihre Sünde von Gott getrennt waren, sondern weil ihn ein feindliches Heer in einer Schlacht besiegte, in der um die Führerschaft des islamischen Reiches gekämpft wurde. Er opferte sich nicht freiwillig, und gab sein Leben nicht hin, um damit Erlösung zu bewirken. Die Rolle des Märtyrers, dessen Blutvergießen noch heute Menschen Segen bringt, wurde al-Husain erst von den nachfolgenden Generationen zugedacht. Zudem ist nach christlichem Verständnis das Leiden durch den Tod Jesu am Kreuz zur Vollendung und zum Abschluß gebracht worden, während das Leiden und die Buße der schiitischen Gemeinschaft bis heute zur Sündenvergebung für alle Schiiten ihre Fortsetzung finden muß.