Islamwissenschaftlerin: Muslimische Integration nicht nur eine Frage der Bildung
B O N N (31. Januar 2008) – Als längst überfällige und zu Teilen wachrüttelnde Bestandsaufnahme zur Integration und der Verortung von Muslimen in Deutschland beschreibt die Islamwissenschaftlerin Dr. Christine Schirrmacher vom Institut für Islamfragen der Deutschen Evangelischen Allianz die Mitte Dezember vom Bundesinnenministerium vorgestellte Studie „Muslime in Deutschland“. Die Hamburger Kriminologen Karin Brettfeld und Peter Wetzels hatten seit 2004 rund 1700 Muslime aus den städtischen Zentren Hamburg, Berlin, Köln und Augsburg zu ihren Einstellungen zu Integration und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und politisch-religiös motivierter Gewalt befragt. Laut Schirrmacher zeigten die Ergebnisse, dass für einen Teil der muslimischen Migranten zwar Fortschritte bei Spracherwerb und Bildung sowie gesellschaftlicher Teilhabe von immenser Bedeutung seien, um mögliche Radikalisierungen abzuwenden. Zum anderen mache die Studie aber auch deutlich, dass Bildung nicht der Schlüssel für eine Beseitigung von Radikalisierungen und Verbundenheit sowie Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft nicht unbedingt eine Frage der Bildung seien. So äußerten z. B. nur 10 Prozent der befragten Studenten eine „kulturelle primäre Identifikation mit Deutschland“. Zudem sei der Abbau von Vorurteilen gegen Muslime bei nichtmuslimischen, zum Teil ausländerdistanziert oder sogar feindlichen Jugendlichen ein ebenso wichtiges gesellschaftliches wie politisches Ziel.
Ausgeprägte Opfermentalität und erhöhte Akzeptanz von Gewalt unter Jugendlichen
Die Studie weist zudem auf die in allen Bildungsschichten festzustellende Selbstwahrnehmung von Muslimen als Opfer einer globalen Strategie gegen den Islam hin. Auch viele, die nicht direkt persönlich Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren hätten, beklagten in der Befragung eine sowohl in Deutschland als auch weltweit empfundene Marginalisierung des Islam. 83 Prozent der befragten muslimischen Studenten empfinden persönlich „Wut“ über die unmittelbare Verdächtigung von Muslimen bei Terroranschlägen. Viele der befragten Aktivisten islamischer Vereine und Organisationen sehen im Klima von Vorurteilen, Feindseligkeiten, Zurückweisungen und Diskriminierungen eine Ursache für Aggressivität unter deutschen Muslimen. Die Statistik zeigt, dass zwar unter den muslimischen Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren nur 6,4 Prozent als islamismusaffin betrachtet werden können, aber 24 Prozent als gewaltaffin. Im Vergleich mit nichtmuslimischen Jugendlichen mit muslimischen Religionsangehörigen sei eine signifikant erhöhte Akzeptanz von Gewalt feststellbar.
Moschee- und Koranschulbesuch nehmen zu
Nach der Studie sind 40 Prozent aller befragten Muslime fundamental orientiert, richten ihren Alltag sehr stark an den Regeln der Religion aus und neigen zu einer pauschalen Aufwertung des Islams und Abwertung der westlichen, christlich geprägten Kulturen. Die Zahl der wöchentlichen Moscheebesucher stieg zwischen 2000 und 2005 von 30,7 auf 41,6 Prozent und die Zahl der Kopftuchbefürworter von 27,2 im selben Zeitraum auf 46,6 Prozent. Während die Studie klar und zutreffend feststellt, dass fundamentale religiöse Orientierungen nicht zwingend zu fundamentalistischen und islamistischen Tendenzen führen müssten, macht die Studie aber auf die integrationshemmende Rolle der Koranschulen aufmerksam, die von der jüngeren Generation heute häufiger und länger besucht würden. Mit dem Besuch des Koranschulunterrichts steigt jedoch nachweisbar die Demokratiedistanz. Die Studie skizziert insgesamt eine grundsätzliche Bereitschaft zur Integration unter Muslimen; zugleich wird von einer großen Zahl von Muslimen – auch unter den Studenten – die Notwendigkeit zur Beibehaltung der eigenen Kultur betont und nur eine Minderheit versteht sich primär als deutsch.
Ambivalentes Verhältnis zu Freiheitsrechten unter Aktivisten
Besorgniserregend erscheint auch das ambivalente Verhältnis zu Freiheitsrechten unter den Aktivisten islamischer Vereine und Organisationen. Während man einerseits Freiheitsrechte zur Durchsetzung eigener Standpunkte – z. B. beim Religionsunterricht der Forderung nach Förderung der eigenen Glaubensrichtung als der einzig richtigen – in Anspruch nehmen wolle, lehne man das gleiche Recht für abweichende islamische Glaubensrichtungen ab oder wolle die Ehe mit nichtmuslimischen Partnern höchstens den eigenen Söhnen, niemals jedoch den Töchtern erlauben. Auch Sonderrechte wie der gesetzliche Schutz islamischer Feiertage und die Anwendung des islamischen Rechts auf die islamische Glaubensgemeinschaft bis hin zur Schaffung einer rechtlichen Parallelgesellschaft wird laut Studie zum Teil von der deutschen Aufnahmegesellschaft als Bringschuld für die Integration gefordert.
Radikalisierungsprozesse verlaufen vielschichtig und schleichend
Anhand von vier biographischen Einzelberichten stellt die Studie abschließend mögliche Faktoren für Radikalisierungsprozesse dar. Auslöser sei oft eine Art „Erweckungserlebnis“, das in einer Zeit der Orientierungslosigkeit und der starken Verunsicherung zu einer (Rück-) Besinnung auf eine ganzheitliche und rigide Ausübung des „wahren Islam“ führen könne. Zur Verschärfung trage unter anderem ein Moschee- und Lernumfeld bei, in dem Abgrenzung und Überordnung der Scharia über westliche Werte gepredigt werde. Der Betreffende distanziere sich in diesem Prozess immer mehr von der westlichen Gesellschaft und akzeptiere zunehmend Gewalt als Mittel zur Verteidigung der Religion oder der Ehre sowie zur Einschränkung von Freiheitsrechten (z. B. gegenüber den Frauen der eigenen Familie). In einigen Fällen verbinde sich in der Folge eine zuvor lediglich auf den persönlichen Glauben bezogene Regelorientiertheit mit zunehmender Demokratiedistanz und einer ausgeprägten Autoritätshörigkeit gegenüber rigiden religiösen Führern, die auch die politische Umsetzung des Islam forderten. Die Autoren der Studie schließen, dass der Dialog offen, aber nicht gleich-gültig geführt werden muss:
„Es deutet sich weiter an, dass diese Suche nach Sinn und Ringen um Werte einen Dialog und glaubhafte Gegenüber benötigt, die einerseits den Islam nicht ausgrenzen, ihm aber auch nicht mit der Attitüde der Beliebigkeit begegnen, sondern selbst auf einem festen Fundament stehend starke Dialogpartner sind“ (S. 501).
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Die Studie: Karin Brettfeld u. Peter Wetzels, Muslime in Deutschland, Hamburg 2007, kann hier herunter geladen oder bestellt werden:
- http://www.bmi.bund.de/cln_028/nn_122688/Internet/Content/Nachrichten/Pressemitteilungen/2007/12/Studie__Muslime__in__Deutschland__erschienen.htm
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