Rasanter Anstieg islamischer Internetpräsenzen seit dem 11. September 2001
B O N N (17. August 2009) – Bei der Frage nach Integrations- und Desintegrationsfaktoren bei muslimischen Jugendlichen in Deutschland sollte nach Einschätzung des Kirchenrats iR Albrecht Hauser vom Institut für Islamfragen der Deutschen Evangelischen Allianz zukünftig noch stärker das vielfältige und kontinuierlich wachsende Angebot islamischer Webseiten berücksichtigt werden. Die Bandbreite des insbesondere nach dem 11.09.2001 rasant gestiegenen Angebots reiche von Fatwa-Datenbanken zur persönlichen Entscheidungsfindung, Multimediaplattformen und Partnersuchmaschinen über missionarische Da’wa-Botschaften bis hin zu islamistischen und jihadistischen Seiten, auf denen eine wortwörtliche Auslegung des Korans propagiert und die freiheitlich demokratische Grundordnung unmissverständlich abgelehnt werde. Dabei sind die Übergänge zwischen verschiedenen ideologischen Ansätzen laut Hauser oft fließend, was auch entsprechende Verlinkungen zwischen gemäßigt konservativ erscheinenden Seiten und eindeutig islamistischen Internetforen belegen.
Konservative Islamverbände online: Imagepflege und islamische Erziehung
In ihrer Studie „Islam goes Internet“ von 2007 über die Webseiten islamischer Organisationen in Deutschland konstatiert die auf Migrationsforschung spezialisierte Medienpädagogin Alev Inan unter anderem mit Blick auf den Zentralrat der Muslime (ZMD), die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) und den Islamrat, dass trotz der Transparenz und Aufgeschlossenheit suggerierenden Webseiten oft die gleichen ultra-konservativen Inhalte vermittelt würden, die vorher in Hinterhofmoscheen gepredigt wurden. Dabei dominierten die Konflikte zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft bei der islamischen Religionsausübung wie die Kopftuchfrage zur Zeit der Untersuchung sowohl die jeweilige Artikelsammlung als auch die interaktiven Foren. Laut Inan vermittelt beispielsweise die IGMG im Internet auch indirekt durch die einseitige Auswahl von Bildern überwiegend Kopftuch tragender Mädchen eine strenge islamische Kleiderordnung, ohne optisch Raum für alternative Kleidungsstile und Lebensentwürfe muslimischer Frauen zu lassen. Aus muslimischer Sicht positiv ausfallende Gerichtsurteile bei den Konfliktfragen würden beispielsweise in den Artikeln auf der Webseite des Islamrates oft als notwendige Bedingungen für Integration, für Muslime negativ ausfallende Urteile als bewusste Diskriminierung, Islam- oder Fremdenfeindlichkeit gewertet. Neben der Vermittlung ihrer Wert und Erziehungsvorstellungen nutzen die Organisationen nach Inans Studie das Internet auch zur Pflege ihres Images und wenden sich damit an die nicht-islamische Öffentlichkeit. Dabei könnten nach Inans Einschätzung die Positionen des ZMD trotz relativ geringer Mitgliederzahl von 20.000 Muslimen aufgrund seiner Internetadresse www.islam.de unkundigen Internetnutzern repräsentativ erscheinen und der ZMD eine „große Definitionsmacht über religiöse Inhalte“ ausüben.
Online Fatwas: Internet bietet neue Möglichkeiten islamischer Entscheidungsfindung
Neuere Forschungen zum Islam im Internet heben hervor, dass gerade jüngere Muslime im Internet nach so genannten Fatwas (Rechtsgutachten) suchen, die das korrekte islamisch legitimierte Verhalten in den unterschiedlichsten Lebenssituationen festlegen. Statt der klassischen Anfrage beim örtlichen Imam, können Sie auf entsprechenden Datenbanken ihr gewünschtes Thema eingeben oder im Live-Chat ihre Frage direkt an einen der einflussreicheren Scheichs stellen. Die Bandbreite der gestellten Fragen ist groß und reicht von rituellen Vorschriften über die Formen und Grenzen legitimer Beziehungen zum anderen Geschlecht oder Anhängern anderer Religionen bis hin zur islamischen Beurteilung von Body-Piercing und Fettabsaugen. Im Seelsorge-Bereich der meist besuchten arabisch-englischsprachigen islamischen Seite www.islamonline.net werden auch interreligiöse Partnerschaften, Konflikte mit den Eltern, sexueller Missbrauch und Pornographie-Sucht thematisiert. Einerseits ermöglicht die Anonymität des Internets es den Nutzern, unverbindlich Fragen zu stellen und Meinungen kundzutun, die im traditionellen örtlichen Kontext von Familie und Moschee unangenehme Reaktionen auslösen könnten. Andererseits sind Nutzer mit einer unüberschaubaren Fülle sich widersprechender Auslegungen und Positionen konfrontiert. Islamische Gelehrte traditioneller Institutionen haben daher in den letzten Jahren schon aus pragmatischen Gründen eine Internetpräsenz aufgebaut, um ihren Einfluss unter anderem über internationale und überkonfessionelle Fatwa-Räte gegen die zahlreichen unausgebildeten Laiengutachter im Netz zu behaupten. Aus dieser Onlineberatung geht nach Einschätzung Hausers deutlich hervor, wie sehr die muslimische Jugend die Fatwas aus den Heimatländern für ein Leben in der Diaspora als verbindlich betrachtet. In den Fatwas, die sich auf die möglichst genaue Nachahmung des Vorbilds Muhammads und seiner Gefährten konzentrierten, werde zudem Integration weniger im Sinne der Versöhnung mit der westlichen Gesellschaft als vielmehr im Sinne der Einbringung islamischer Werte in die westliche Gesellschaft verstanden.
„Jihad for peace“: Apologetik und Mission als Antwort auf den 11. September 2001
Das Internet wird dabei auch zu apologetischen und missionarischen Zwecken genutzt. Insbesondere nach dem 11.09. ist die Anzahl entsprechender Internetseiten, die über den „wahren Charakter“ des Islam aufklären wollen, enorm gestiegen. Mit dem vom britischen Islamwissenschaftler Gary Bunt als „Jihad for peace“ beschriebenen Phänomen ist das Bemühen gemeint, in Reaktion auf terroristische Anschläge im Namen des Islams den friedlichen Charakter der islamischen Religion darzulegen und den so genannten großen Jihad der inneren Anstrengung auf dem Weg Gottes gegenüber dem kleineren, gewaltsamen Jihad zu betonen. So verurteilte beispielsweise der unter jungen Muslimen in westlichen Ländern einflussreiche sunnitische Gelehrte, der Ägypter Yusuf al-Qaradawi, die Anschläge vom 11.09. in einer Erklärung bei islamonline bereits am 12.09. als „schreckliches Verbrechen“. Auf derselben Webseite finden sich allerdings auch Rechtsgutachten, in denen al-Qaradawi palästinensische Selbstmordattentate als höchste Form des Jihads verteidigt und auch die Tötung des bewusst und erkennbar vom Glauben abgefallenen Muslims rechtfertigt. Andere Seiten werben noch offensiver für den Islam. In Deutschland dominieren salafitische Prediger und Missionare das deutschsprachige Internetangebot. Vor allem der deutsche Konvertit und salafitische Prediger Pierre Vogel, alias Abu Hamza, setzt auf die Möglichkeiten des Internets. Der ehemalige Profiboxer konvertierte 2001 zum Islam und absolvierte unter anderem ein zweijähriges Sprachstudium in Mekka. Seit 2006 reist er als eine Art Wanderprediger durch Deutschland und propagiert einen salafitischen Islam, der sich strikt an den koranischen Vorgaben und dem Vorbild Muhammads und der frühislamischen Vorfahren orientiert und eine konsequente Absonderung von allen unislamischen Einflüssen fordert. Im Internet veröffentlicht er im Videoformat seine Predigten samt Einladung zum Islam (da’wa) sowie Bekehrungsgeschichten deutscher Konvertiten.
Fließende Übergänge zwischen islamistischen und jihadistischen Seiten
In seinem Bericht von 2008 beschreibt der Bundesverfassungsschutz das Internet als das „wichtigste Kommunikations- und Propagandamedium für Islamisten und islamistische Terroristen“. Es ermögliche die „Bildung ‚virtueller‘ Netzwerke“ und die Vernetzung Gleichgesinnter über Diskussionsforen und Chatrooms. Auf diese Weise könnten anonym Kontakte geknüpft, Radikalisierungsprozesse entweder initiiert oder unterstützt, ideologische und militärische Schulungen angeboten sowie Rekrutierungen angebahnt werden. Über die Globale Islamische Medienfront (GIMF) wurden zuletzt auch Videos mit Anschlagsdrohungen an die deutsche Regierung auf den jihadistischen Seiten veröffentlicht. Emotionalisierende Bilder muslimischer Opfer aus den derzeitigen Konfliktregionen sowie Ehrungen und Lebensläufe so genannter Märtyrer und theologische Artikel zum Jihad in Koran und Überlieferung gehören ebenfalls zum Repertoire dieser Webseiten. Während salafitische Prediger wie Vogel sich öffentlich von religiös legitimierter Gewalt distanzieren, können die Übergänge zu jihadistischen Botschaften, die den gewaltsamen Jihad gegen den „ungläubigen Westen“ propagieren, fließend sein. So wertet beispielsweise der Göttinger Islamwissenschaftler Henner Kirchner, der derzeit zum Islam im Internet promoviert, den auf den ersten Blick harmlos wirkenden deutschsprachigen Internetauftritt der islamistischen „Hizb ut-Tahrir“ („Partei der Befreiung“) trotz fehlender Gewaltvideos und direkter Aufrufe zum Jihad als eine Art „Durchlauferhitzer“, der „junge Menschen auf diese Art empfänglich für die Ideen noch radikalerer Gruppierungen“ mache. Durch
eine häufig am Wortlaut des Korans ausgerichtete und stark antiwestliche und antisemitische Hetze wird demnach der Boden für militante Gruppen bereitet. Laut Hauser wird das Internet, da es zum ersten Mal in der Geschichte die virtuelle Vernetzung der weltweiten Umma ermöglicht, für die muslimische Identität in der Zukunft von großer und wachsender Bedeutung sein. Während es einerseits für die verschiedenen islamistischen Strömungen derzeit das wirksamste Propagandainstrument darstellt, das zunehmend in den Dienst des Kampfes gegen den Westen gestellt werde, biete es andererseits eine anonyme und allseits erreichbare Plattform für den Austausch von Meinungen zum Islam, die vom orthodoxen Schariastandpunkt abweichen und sich an westlichen Menschenrechtserklärungen sowie Freiheitsrechten für den Einzelnen orientieren.
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