Der biblische Begriff „Gnade“ hat viele Bedeutungen, die außerhalb der Kirche kaum noch verstanden werden. Im modernen Deutschen ist der Begriff längst entleert und wird – wo er noch Verwendung findet – der vielschichtigen biblischen Bedeutung gar nicht mehr gerecht. Gnade ist jedoch ein ganz grundlegender biblischer Begriff, der den christlichen Glauben von allen anderen Religionen unterscheidet.
Gibt es im Koran und im Islam überhaupt ein Reden von der „Gnade“ Gottes? Wo bestehen Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede zwischen Bibel und Koran? Wo gibt es Anknüpfungspunkte, um die biblische Botschaft Muslimen zu vermitteln?
1. Gnade im Alten Testament
Der Begriff „Gnade“ scheint im Alten Testament seltener vorzukommen als im Neuen Testament. Aussagen wie Johannes 1,17 („Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“) und Römer 6,14 („Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch, weil ihr ja nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade“) scheinen das landläufige Vorurteil zu bestätigen, dass Gott gemäß des alttestamentlichen Zeugnisses ein Gott des Zorns und gemäß dem Neuen Testament ein Gott der Liebe ist.
Das ist jedoch nicht richtig. Gott ist ein Gott der Gnade in der ganzen Bibel. Bereits im 1. Buch Mose be-ginnt die Heilsgeschichte damit, dass Gott sich den Menschen gnädig zuwendet, um sie zu erlösen. Sein Erlösungshandeln gipfelt schließlich darin, dass er seinen Sohn Jesus Christus als Erlöser schickt.
Der Eindruck, dass es weniger „Gnade“ im Alten Testament gibt, entsteht durch die deutschen Bibelübersetzungen: Der wichtigste theologische Begriff des Alten Testaments für „Gnade“ heißt auf hebräisch „hesed“ und kommt 245 mal vor. „Hesed“ hat viele Bedeutungen, u. a. auch „Gnade“. Die bekannteste griechische Übersetzung des Alten Testamentes, die Septuaginta, übersetzt „hesed“ jedoch systematisch mit „eleos“, was in der deutschen Bibel mit „Barmherzigkeit“ wiedergegeben wird. Das zweite hebräische Wort für „Gnade“, „hen“, das im Alten Testament nur 69 mal vorkommt, wurde im Griechischen mit „charis“ und im Deutschen mit „Gnade“ übersetzt.
So entstand der unberechtigte Eindruck, dass das Alte Testament weniger von Gnade spricht als das Neue Testament. Richtig ist jedoch, dass im Alten Testament von Gottes gnadenreichem Handeln gesprochen wird, und zwar von der Vertreibung aus dem Paradies über den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten und im Senden seiner Propheten bis zum Kommen des Retters Jesus Christus.
Das hebräische Wort „hesed“ drückt mehr als der deutsche Begriff „Gnade“ aus. Je nach Kontext kann es mit „unverdiente Zuwendung“, „liebende Zuwendung“, „Güte“, „Bündnistreue“, „Gnade“ oder „Barmherzigkeit“ wiedergegeben werden. „Liebende Zuwendung“ ist vielleicht die umfassendste Übersetzung, weil in ihr alle anderen Bedeutungsvarianten enthalten sind.
Von der Aussage her bezeichnen die verschiedenen alttestamentlichen Worte sowohl Gottes allgemeine Gnade wie auch seine Rettergnade, die er einzelnen Menschen und Völkern erweist. Dies ist zum Verständnis von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum koranischen „Gnaden“ begriff wichtig.
2. Gnade im Neuen Testament
Die Schreiber des Neuen Testamentes haben vom Alten Testament den wichtigen Schlüsselbegriff „Gnade“ übernommen. Dieser Begriff verankert die neutestamentliche Botschaft in der Heilsgeschichte.
Das Neue Testament gibt die vielen Facetten des Gnadenbegriffs mit dem Wort „charis“ wieder. „Charis“ ist noch bedeutungsreicher als „hesed“. Er kann je nach Kontext mit „Gunst“, „Wohlwollen“, „liebende Zuwendung“, „unverdiente Zuwendung“, „Güte“, „Barmherzigkeit“, „Gabe“ oder „Geschenk“ übersetzt werden.
„Charis“ kommt 155 mal im Neuen Testament vor, insbesondere in den paulinischen Briefen. Als „Gnade“ bezeichnet das Neue Testament vor allem das unverdiente Geschenk der Erlösung durch Jesus Christus. Gott, der Vater, ist die Quelle dieser Rettergnade, die im Opfertod seines Sohnes offenbar wird. Christus, der Retter, schenkt die Gabe der Erlösung. Der Reichtum der Gnade Gottes zeigt sich auch in seiner liebenden Zuwendung zu den Menschen, in der Vergebung der Sünden (Epheser 1,7), der Gabe des ewigen Lebens (Römer 6,23) und in den geistlichen Gaben (1. Korinther 1,7).
Das alttestamentliche „hesed“, sowie das neutestamentliche „charis“ könnte man also vielleicht am ehesten mit „Gottes liebende Zuwendung“ beschreiben. Diese „liebende Zuwendung“ kommt vor allem in der unverdienten Gnade der Errettung
zum Ausdruck. So kann der Mensch zusätzlich zur allgemeinen Gnade auch Gottes Rettergnade erfahren. Damit unterscheidet sich der biblische (vor allem neutestamentlichchristliche) Gnadenbegriff beträchtlich von koranischen Vorstellungen der Gnade Allahs:
3. Gnade im Koran
Zwar scheint es zwischen Christentum und Islam auf den ersten Blick manche Gemeinsamkeiten zu geben, aber in Bezug auf das Gottesbild und den daraus resultierenden Gnadenbegriff ergeben sich fundamentale Unterschiede:
In Bibel und Koran wird Gott als guter Gott beschrieben. Der Koran spricht von Allahs Gunst, seiner Gnade und Zuwendung mit Worten, die von den arabischen Wurzeln RDW, FDL, LTF und N’M abgleitet sind. Allahs „Gnade“ zeigt sich nach Auffassung des Korans in seinen Gunstbeweisen, also in geistigen und materiellen Segnungen, die er den Menschen zukommen läßt. Allah ist der, der ständig gibt (Sure 3,6; 38,8; 52,28).
Allah zeigt seine allgemeine Gnade in der Schöpfung des Menschen und aller anderen Lebewesen, einschließlich der Engel (Sure 15,29-35; 17,72; 38,71-85). Immer und immer wieder betont der Koran, dass Allah der „Barmherzige“ ist, die Summe alles Guten. Jede Sure – mit Ausnahme von Sure 9 – beginnt mit den Worten: „Im Namen des Gnädigen, des Barmherzigen“. Sure 7,156 formuliert sogar:
„Aber meine Barmherzigkeit kennt keine Grenzen.“
In dieser allgemeinen Gnade Allahs, in seiner wohlwollenden Zuwendung zur Schöpfung, bestehen also Parallelen zum biblischen Begriff der allgemeinen Gnade Gottes, der „es regnen läßt über Gerechte und Ungerechte“ (Matthäus 5,45).
Es bestehen aber gleichzeitig fundamentale Unterschiede, die nicht zu übersehen sind:
Im Vergleich zur Bibel fällt auf, dass der Koran zwar von der Gnade und Barmherzigkeit, ja auch von der „Liebe“ Gottes spricht (3,31), dass aber diese Barmherzigkeit und „Liebe“ weder das Wesen Gottes beschreiben, noch das Zentrum der koranischen Botschaft darstellen. Allah erweist zwar seine Barmherzigkeit, wem er will. Das Zentrum der koranischen Botschaft ist jedoch das Bekenntnis, dass es nur einen einzigen Gott gibt, der allmächtig und ewig ist (arab. tauhid).
Der Koran betont, dass Gott alle Rechtschaffenen „liebt“ und auf seinem Weg nur diejenigen rechtleitet, die seinen Willen tun. Seinen Feinden kommt Gott nicht entgegen, und die ihm keine Dankbarkeit erweisen, haben von ihm nichts zu erwarten als Zorn und Verurteilung. Er „liebt“ nicht Ungerechte, Ungläubige Übertreter und die, die Böses tun.
Nach Aussage der Bibel besteht kein Zweifel daran, dass der Mensch allein durch Gnade gerettet wird durch den Glauben an Jesus Christus (Römer 3,23-24). Dieses gnädige Erbarmen Gottes ereignet sich durch den Tod Jesu schon dann, wenn der betreffende Mensch noch ein „Gottloser“, „Sünder“ und „Feind“ Gottes ist (Römer 5,6+8+10). Für den Islam wäre eine solche vorlaufende Vergebung undenkbar, denn Allah kann nach koranischer Auffassung erst dann vergeben, wenn der Mensch von sich aus den ersten Schritt getan hat, gläubig geworden ist und das Rechte tut (also vor allem die „fünf Säulen“ des Islam hält).
Und während die Bibel immer wieder von der Gewissheit der Erlösung spricht (1. Johannes 5,12) kann der muslimische Gläubige nur hoffen, dass er sich durch viele gute Werke das Paradies verdient hat. Es gibt keine Heilsgeschichte und keine Heilsgewissheit im Koran. Der Islam verneint, dass der Mensch im biblischen Sinne von der Macht der Sünde gerettet werden muß, weil der Mensch nach dem koranischen Menschenbild zwar schwach, aber gut ist. Er braucht nur die richtige Leitung. Nach der Bibel ist der Mensch jedoch „böse von Jugend auf“ (1. Mose 8, 21) und braucht Erneuerung des Herzens, die Wiedergeburt. Das kann nur durch die Initiative Gottes geschehen, durch seine Rettergnade. Nur so können Sünder erlöst werden.
Allah ist jedoch nicht der Vatergott, der seine Retterliebe gezeigt hat, indem er seinen Sohn am Kreuz hat sterben lassen. Allah ist nicht Mensch geworden, er hat sich nicht in selbstloser Hingabe am Kreuz dahingegeben, um Verlorene zu retten. Erlösung ist Teil der Verantwortung des Menschen im Islam. Jeder Mensch steht allein vor Allah (Sure 6,164), er braucht keinen Erlöser. Dabei hat ein Muslim bei allen guten Werken aber keine Heilsgewissheit. Immer bleibt die Ungewissheit „so Allah will“.
Deshalb: Die Rettergnade Gottes (nicht die allgemeine Gnade) ist das Spezifische des christlichen Gnadenbegriffs. Nicht aus eigenen Anstrengungen können Menschen sich retten, sondern alles hängt von Gottes unverdienter Gnade und liebender Zuwendung in Jesu Tod und seinem heutigen Retterhandeln ab.