Liberale Muslime suchen nach einem zeitgemäßen Islam für Deutschland
B O N N (05. Juli 2010) Eine „dogmafreie Auslegung“ des Korans unter Berücksichtigung historischer und sozialer Kontexte, eine umfassende Gleichberechtigung von Mann und Frau und eine dem Grundgesetz entsprechende „Akzeptanz unterschiedlicher und selbstbestimmter Lebensgestaltungen“: Nach seinem Selbstverständnis repräsentiert der im Juni 2010 gegründete Liberal-islamische Bund (LIB) mit diesen Zielen die Stimme der aus seiner Sicht schweigenden liberalen Mehrheit der Muslime in Deutschland. Sollte der LIB in den nächsten Jahren eine entsprechende organisatorische Basis aufbauen, könnte er aus Sicht des Islamwissenschaftlers Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen vor allem wertvolle Impulse für die innermuslimische Debatte über Identität und Integration geben. LIB-Gründerin Lamya Kaddor hat ihren „Weg zu einem zeitgemäßen Islam“ Anfang dieses Jahres in ihrem Buch „Muslimisch, Weiblich, Deutsch!“ beschrieben. Die Schilderungen der muslimischen Religionspädagogin und Islamwissenschaftlerin syrischer Herkunft vermitteln anschaulich, in welchen religiös-kulturellen, ethischen und politischen Spannungen Muslime heute in Deutschland leben. Kaddor wünscht sich von der Mehrheitsgesellschaft mehr Offenheit und Differenzierung im Umgang mit Muslimen. In erster Linie will sie jedoch ihre jungen Glaubensgeschwister ansprechen, die in Deutschland ihre Heimat gefunden haben.
Islamischer Religionsunterricht: Koran verstehen statt rezitieren
Kaddor kritisiert die ausschließliche Fixierung auf eine „Erziehung zum Glauben“ in den Koranschulen. Dort müssen die Kinder vor allem den Koran rezitieren und die arabische Sprache lernen. Daher setzt sie sich schon seit Jahren für die Einführung eines flächendeckenden islamischen Religionsunterrichts ein, der den Schwerpunkt auf die „religiöse Wissensvermittlung“ und Reflexion der eigenen islamischen Identität legt. Zu diesem Zweck hat sie bereits 2008 gemeinsam mit Rabeya Müller einen „Koran für Kinder und Erwachsene“ herausgebracht und einzelne Koranstellen zu verschiedenen Themen wie Gott, Schöpfung, Mitmenschen, Propheten und Gesandte zusammengestellt. Dazu gibt es zur Illustration Kalligraphien – sogar von Mohammed. Die beiden Herausgeberinnen wollen damit zur Lektüre des weder zeitlich noch thematisch geordneten Originals anregen. Laut Polanz spiegeln die Auswahl der Verse und auch die teilweise euphemistische Darstellung islamisch definierter Glaubensfreiheit in den Begleitartikeln ihre Suche nach einem „zeitgemäßen Islam“ wider. Reizwörter der gesellschaftlichen Islamdebatte wie Scharia und Jihad kommen in ihrem Koran ebenso wenig vor wie die zahlreichen Koranstellen, von denen die Mehrheit muslimischer Gelehrter bis heute den politischen Herrschaftsanspruch des Islam oder beispielsweise auch die rechtliche Benachteiligung der Frau ableiten.
Überzeugung von der eigenen Überlegenheit und Opferrolle infrage stellen
In ihrem Buch beschreibt Kaddor auch, wie sie es irgendwann leid gewesen sei, immer zu hören, dass „wir ‚Muslime‘ oder wir ‚Araber‘ besser als die anderen, [besser] als die Juden, besser als die Christen, besser als die Westler, besser als die Europäer und besser als die anderen Muslime“ seien. Dabei wisse „ja jeder Beteiligte, dass ‚wir‘ natürlich keinen Deut besser sind als ‚die‘.“ Kaddor wünscht sich in diesem Punkt mehr kritische Selbstreflexion innerhalb der muslimischen Gemeinschaft und wendet sich gegen eine übertriebene muslimische Opfermentalität. Statt vorwiegend auf ihre Rechte zu pochen, sollten sich Muslime „ihre Pflichten gegenüber dem deutschen Staat bewusst machen“ und trotz Anfeindungen und Diskriminierungen wahrnehmen, dass die Mehrheit der Deutschen „offen, tolerant und entgegenkommend“ ist.
Trotz Gruppendrucks Mut zum Widerspruch – auch beim Hass auf Juden
Kaddor bedauert die Lähmung vieler liberal denkender Muslime, wenn es um den Mut zum Widerspruch bei religiösen und politischen Diskussionen in Familie und Moschee geht. In ihrem Buch beschreibt sie, wie sie selbst als „Ausbrecherin“ schon vielfach den „Druck der anderen zu spüren“ bekam. Um zu einer offeneren und toleranteren Gesprächskultur zu finden, müssen ihrer Ansicht nach „alte und verkrustete Strukturen aufgebrochen werden […], um endlich frei von allen Zwängen zu überdenken, wie und wo jeder Einzelne stehen will.“ Ein lähmender Gruppendruck macht sich nach ihrer Beobachtung auch beim Antijudaismus unter Muslimen bemerkbar. Ihre Glaubensgeschwister fragt sie: „Wer würde in einer Gesprächsrunde, in der Judenhass propagiert wird, widersprechen und klar zu erkennen geben, dass Antijudaismus keinen Platz in den Köpfen von Muslimen haben darf? Ich kenne kaum jemanden!“
Gegen Kopftuchzwang und gegen Stigmatisierung von Kopftuchträgerinnen
In der Kopftuchdebatte wünscht sich Kaddor sowohl von Seiten der Mehrheits- als auch der Minderheitsgesellschaft mehr Differenzierung. Daher darf es für sie weder einen Kopftuchzwang unter Muslimen noch eine Stigmatisierung von Kopftuchträgerinnen geben. In einer pluralistischen Gesellschaft müsse das Kopftuch als freiwilliger Ausdruck des eigenen Glaubens vorbehaltlos akzeptiert werden. Frauen allerdings, die damit ihre antiwestliche Haltung zum Ausdruck bringen wollten, würden „einen Keil in die muslimische Gemeinde treiben“ und jede Kopftuchträgerin zu einer politischen Stellungnahme zwingen. Kaddor selbst trägt kein Kopftuch. Um dem koranischen Gebot anständiger Bekleidung zu folgen, kann die Frau aus ihrer Sicht in der heutigen Gesellschaft ihre körperlichen Reize auf andere Weise bedecken. Was jedoch „anständig“ und „angemessen“ bedeutet, wird für sie „durch die Vernunft definiert und nicht durch das Weltbild zumeist alter Männer – ob nun gelehrt oder ungelehrt -, die die Definitionsmacht hierüber für sich beanspruchen.“
Muslime müssen deutlicher gegen Gewalt im Namen des Islams protestieren
Kaddor fordert zudem stärkere Distanzierung und deutlichere Proteste von muslimischer Seite, wenn im Namen des Islam Hass und Gewalt gepredigt werde. Muslime müssten islamistischen Aggressionen auch dann mutig entgegentreten, wenn sie durch tatsächliche Benachteiligungen von Muslimen provoziert worden seien. Bliebe der Widerstand aus, würde das Bild, das die sogenannten Hassprediger erzeugen, auf jeden einzelnen Muslim zurückfallen. In diesem Zusammenhang plädiert sie für eine historische Kontextualisiserung jener Koranverse, die Muslime auffordern, die Ungläubigen zu töten (z.B. Sure 2,191). Solche Aussagen erscheinen bei Kaddor als Gottes konkrete Antworten auf die muslimischen Herausforderungen „in der rauen und lebensfeindlichen Welt der arabischen Wüste im 7. Jahrhundert“. Für Kaddor haben solche Aufrufe im 21. Jahrhundert keine Bedeutung mehr. Welche Verse dagegen ewige Gültigkeit beanspruchen können, sollen Muslime ergebnisoffen miteinander diskutieren und allein mit der Vernunft entscheiden.
Nach Polanz‘ Einschätzung könnte Kaddors klare Absage an den politischen Herrschaftsanspruch des Islam und jeglichen religiös legitimierten Zwang der Beginn einer kritischen Auseinandersetzung mit dem politischen Erbe des Islam und der zeitlosen Gültigkeit von Muhammads Vorbild sein. Eine derartige Reflexion würde zu den unverzichtbaren Vorausssetzungen für die von Kaddor geforderten islamtheologischen Fakultäten in Deutschland und die angestrebte Einrichtung eines flächendeckenden Religionsunterrichts gehören, so Polanz.
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