Was wollen die Salafiten?
B O N N (28. Juli 2011) Das Ziel salafitischer Gruppierungen ist ein Scharia-Islam mit totalitären Zügen, teilweise verbunden mit dem Streben nach einem weltweiten Kalifat. Doch streiten sie teils heftig um die korrekte Auslegung der Quellen und die richtige Strategie zur Ausbreitung ihrer Ideen, erklärte der Islamwissenschaftler Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen aus Anlass der aktuellen Debatte um die Gefahr der salafitischen Ideologie. Dass die Übergänge zwischen Gruppierungen, die sich friedlich geben, und militanten Gruppierungen fließend sind, zeigt laut Polanz ein Blick auf die Ursprünge und Entwicklung der Salafiyya-Bewegung.
Anspruch der Überlegenheit einerseits, Gefühl der Unterlegenheit andererseits
Es war vor allem die Erfahrung der Unterlegenheit und Rückständigkeit, die im 19. Jahrhundert zur Entstehung der Salafiyya geführt hat. Die Vorherrschaft der christlichen Kolonialherren und die westliche Überlegenheit im militärischen, technologischen und naturwissenschaftlichen Bereich stand bereits für die Vordenker der Salafiyya in einem schmerzhaften Widerspruch zu ihrer Überzeugung, dass der Islam die abschließende, vollkommene und allen anderen Religionen und Philosophien überlegene Botschaft darstellt. Salafitische Vordenker wie der Iraner Jamal al-Din al-Afghani (1839-1897) kritisierten die geistige Degeneration und Erstarrung der Muslime ihrer Zeit. Aus seiner Sicht hatte die traditionelle Gelehrsamkeit den Bezug zum muslimischen Alltag verloren und die Auseinandersetzung mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Technologien sträflich vernachlässigt. Die Schwäche der islamischen Welt und insbesondere der indischen Muslime unter britischer Herrschaft war für al-Afghani zudem in der zunehmenden Entfernung von den Geboten Gottes begründet.
Rückkehr zum „wahren Islam“ und zum Vorbild der ersten Muslime
Al-Afghani und seine Mitstreiter forderten die Muslime daher auf, zum „wahren Islam“ der Frühzeit und zum Vorbild Muhammads und der ersten drei Generationen nach ihm (as-salaf as-salih, „die frommen Altvorderen“) zurückzukehren. Indem sie den Einheitsgedanken ins Zentrum ihrer theologischen und politischen Konzepte stellten, wollten die frühen Salafis sowohl die Trennung in unterschiedliche Rechtsschulen als auch die politischen Spaltungen der islamischen Welt überwinden. Dazu musste der Islam aus ihrer Sicht von allen unislamischen Einflüssen gereinigt werden. Dabei wandten sich die frühen Salafis gleichermaßen gegen mystische Praktiken, Aberglauben und Heiligenverehrung wie gegen die unreflektierte Übernahme westlicher Werte und Rechtsvorstellungen. Anders als die traditionellen Gelehrten ignorierten sie die Errungenschaften und Vorzüge der Moderne nicht, sondern bemühten sich um ihre islamische Aneignung.
Der Islam als reine Vernunftreligion und zeitlose Antwort auf alle Fragen
Es war vor allem der Ägypter Muhammad Abduh (1849-1905), der sich in seinen Schriften gegen den europäischen Vorwurf islamischer Irrationalität und Intoleranz zur Wehr setzte. Abduh sah den Islam vielmehr als vernunftbezogene Religion mit einer einfachen dogmatischen Struktur. Der Koran hielt aus seiner Sicht Antworten auf alle Fragen der menschlichen Natur und des menschlichen Zusammenlebens bereit. Die koranische Offenbarung sollte die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft sein. Abduh unterschied dabei zwischen unveränderlichen Vorschriften und solchen Prinzipien, die flexibel im Licht der jeweiligen zeitlichen und räumlichen Umstände ausgelegt werden sollten. Um zugleich die westliche Moderne für Muslime akzeptabel zu machen, stellte Abduh sie als „reines“ Produkt der mit islamischen Prinzipien vereinbarten Vernunft dar, das nichts mit dem für ihn irrationalen Christentum zu tun hatte. Zugleich war er bemüht, moderne wissenschaftliche Erkenntnisse im Koran nachzuweisen, indem er beispielsweise die im Koran vorkommenden Djinn (eine Art unsichtbarer Dämonen) als Krankheitserreger im modernen Sinne interpretierte.
Muslime zerrissen zwischen Säkularisierung und Reislamisierung
Gerade in Indien war im 19. Jahrhundert zu beobachten, wie unterschiedlich die Vorstellungen darüber waren, was mit der Rückkehr zu den islamischen Wurzeln gemeint war. So setzte sich beispielsweise der indische Gelehrte Sayyid Ahmad Khan (1817-1898) für eine Zusammenarbeit mit den britischen Kolonialherren ein und lehnte den Gedanken eines gewaltsamen Jihads gegen die Briten entschieden ab. Solange die Muslime ihre religiösen Pflichten ausüben könnten, gebe es keinen Grund, gegen die Briten zu kämpfen. Khan zeigte sich auch offen gegenüber den modernen westlichen Ideen im Bereich von Kultur und Bildung. Dagegen wetterten die Gelehrten der 1866 gegründeten islamischen Hochschule im indischen Deoband gegen alles Westliche, das aus ihrer Sicht den islamischen Herrschaftsanspruch untergrub.
Inspiration für zahlreiche islamistische und jihadistische Bewegungen
Die rückwärts gewandte Utopie der Salafiyya sollte ebenso wie die arabische Wahhabiyya-Bewegung zahlreiche weitere islamistische Bewegungen u.a. in Indien, Bangladesch, Pakistan und Afghanistan sowie im Nahen und Mittleren Osten inspirieren. Viele dieser Gruppen wie die indische Tablighi Jamaat oder die ursprünglich palästinensische Hizb ut-Tahrir sind heute auch in Europa äußerst aktiv. Ebenfalls die heute einflussreichste islamische Massenbewegung, die ägyptische Muslimbruderschaft, ist 1928 vom strengen salafitischen Geist inspiriert worden und propagiert über ihre weltweiten Ableger bis heute die Rückkehr zum „wahren Islam“ und die Aufrichtung der Scharia als Lösung aller politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme. Während viele Gruppen des politischen Islam die friedliche Verbreitung ihrer Ideen vorziehen, will die Muslimbruderschaft den gewaltsamen Jihad als letzte Option der „Verteidigung“ islamischer Ansprüche nicht ausschließen. Andere von der Salafiyya-Ideologie inspirierte Gruppen wie al-Qaida propagieren den militanten Jihad sogar als erstes und wichtigstes Mittel zur Durchsetzung einer islamischen Weltherrschaft. Zur Rechtfertigung verweisen auch sie auf das Vorbild Muhammads und seiner frühen Nachfolger.
Salafiten in Deutschland fordern strikte Abgrenzung von den „Ungläubigen“
In Deutschland tritt die salafitische Ideologie ebenfalls in unterschiedlichen Formen in Erscheinung. Während Vogel und seine Gesinnungsgenossen mit langen Bärten und weißen arabischen Gewändern ihre Rückbesinnung auf das siebte Jahrhundert unterstreichen, setzen sich andere Salafiten in Nadelstreifenanzügen für die politische Durchsetzung islamischer Rechtsvorstellungen ein. Ihren wachsenden Einfluss insbesondere auf die junge Generation verdanken die Salafiten heute ausgerechnet dem Internet. Mit modernsten Marketingmethoden werben sie auf ihren höchst professionellen Seiten in der Sprache ihrer Zielgruppen für die „einzig wahre Religion“. Sie alle fordern eine mehr oder weniger strikte Abgrenzung von den „Ungläubigen“ und „Götzendienern“, zu denen sie auch die Juden und Christen zählen, denen sie die im Koran ausführlich beschriebenen Höllenstrafen androhen. Muslime, die die Glaubenspflichten nicht in der von der Gruppe vorgegebenen Weise vollziehen oder sich als Frauen nicht entsprechend der salafitischen Geschlechtertrennung und Kleiderordnung verhalten, werden daher häufig zu Ungläubigen erklärt. Dabei streiten die Salafisten und andere Islamisten allerdings auch untereinander über die Flexibilität bestimmter Gebote und bezichtigen sich infolgedessen gegenseitig der Irrlehre und des Abfalls vom Glauben.
Entschiedener Widerstand in Politik und Gesellschaft notwendig
Gerade auf Jugendliche mit ausgeprägten Identitätskonflikten und Gefühlen der Orientierungslosigkeit und Überforderung üben die salafitischen Gruppierungen hierzulande mit ihren einfachen Feindbildern und Handlungsanweisungen eine starke Anziehungskraft aus. Häufig vermitteln die entsprechenden Gruppen ein ausgeprägtes Wir-Gefühl mit einem religiös begründeten Überlegenheitsanspruch gegenüber den Ungläubigen und all den Muslimen, die ihre Religion nicht in derselben Strenge und Konsequenz verstehen und leben.
Polanz stimmt daher der Einschätzung des hessischen Innenministers Boris Rhein zu, dass der Salafismus wie ein Katalysator auf dem Weg in den islamistischen Terrorismus wirken könne. Aufgrund ihrer fehlenden Distanzierung vom totalitären Anspruch eines Scharia-Islam und ihrer Nähe zu militanten Gruppierungen dürfe die Ideologie des Salafismus daher nicht mit Toleranz betrachtet werden, erklärte Polanz. Gruppen, die sich zu dieser Weltanschauung bekennen, hätten sich eindeutig von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entfernt. Es sei nicht nur die Aufgabe von Sicherheitsbehörden, sondern der ganzen Gesellschaft, diesen Anspruch wirksam zurückzuweisen, so Polanz.
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