Anschläge des 11. September nach dem Koran gerechtfertigt?
Der Islam zwischen Krieg und Frieden
B O N N (06. September 2011) In einer Art spirituellen Anleitung für seine Mittäter schrieb Muhammad Atta kurz vor den Anschlägen des 11. September 2001:
„Sei stark und glücklich mit geöffnetem Herzen und Zuversicht, denn du tust Arbeit, die gottgefällig ist und die er segnet […] Der Himmel lächelt, mein Sohn, denn du marschierst zum Himmel […] Jeder sollte bereit sein, seinen Teil zu übernehmen, und deine Tat wird durch Gottes Willen befürwortet.“
Islamistische Attentäter und jihadistische Gruppierungen wie al-Qaida beziehen sich bei ihrem Aufruf zum „Jihad gegen die Ungläubigen“ zumeist auf Koranverse und Überlieferungen aus der späten Lebensphase Muhammads in Medina. Dagegen verurteilen zahlreiche islamische Gelehrte und Organisationen in aufwendigen Anti-Terror-Kampagnen islamistische Anschläge und legen dar, dass der Islam als „Religion der Toleranz und des Friedens“ keinerlei Gewalt gegen Unschuldige rechtfertige. Sie verweisen dabei vor allem auf die milden und vermittelnden Töne aus der Frühzeit Muhammads in Mekka. Eine dritte Gruppe beschreitet eine Art Mittelweg. Sie lehnt den Terror des 11. September mit den frühen und milden Versen ab, während sie zugleich an anderen Orts – vor allem im Nahostkonflikt – leidenschaftlich den kämpferischen Jihad und Selbstmordattentate als „heroische Märtyreroperationen“ propagiert – mit den selben Versen und Überlieferungen, auf die sich auch die Attentäter des 11.09. bezogen haben. Zu dieser letzten Gruppe zählt auch der ägyptische Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi, der derzeit wohl einflussreichste muslimische Gelehrte. Während der heute 85-Jährige die Anschläge als „schreckliches Verbrechen“ beschrieb und die Attentäter als fanatische Menschen, brachte er vor kurzem seinen Wunsch zum Ausdruck, notfalls mit dem Rollstuhl ins „Land des Jihad“ zu fahren, um dort Juden zu töten und als „Märtyrer“ zu sterben.
Der Unterschied zwischen Mekka und Medina: Die zwei Gesichter des Islam
Um diese völlig unterschiedlichen Stellungnahmen besser zu verstehen, muss man sich mit dem Lebenslauf Muhammads auseinandersetzen, erklärte Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen anlässlich des zehnten Jahrestags der Anschläge. In Mekka befindet sich Muhammad zunächst mit seiner kleinen Anhängerschar in der Situation einer verfolgten Minderheit. Koranverse aus dieser Phase konzentrieren sich stark auf die Verkündigung des allmächtigen Schöpfers, warnen die ungläubigen Polytheisten vor dem Gericht Gottes und rufen sie zur Unterwerfung (Islam), zum Beten, Fasten und Almosengeben auf. In dieser Phase bemüht sich Muhammad auch um die Anerkennung seines prophetischen Anspruchs durch die Juden und Christen, betont die Gemeinsamkeiten. 622 kommt es zum Wendepunkt. Muhammad flieht mit seinen Anhängern nach Medina, wo er sich rasch zum politischen und militärischen Führer entwickelt und fortan die religiöse und weltliche Macht in seiner Person vereint. Die koranische Verkündigung widmet sich nun sehr viel stärker dem Diesseits. Der Ton wird kämpferischer.
Vom Verbot über die Erlaubnis zum Befehl des Kampfes
Nachdem der Koran den Gläubigen in Mekka noch die Anwendung von Gewalt gegen ihre Widersacher verboten hat, folgt nun erst die Erlaubnis und später der Befehl, gegen die heidnischen Feinde zu kämpfen. Aus der letzten Phase im Leben Muhammads stammt schließlich auch der sog. Schwertvers (Sure 9,5):
„Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet verrichten und die Almosensteuer geben, dann lasst sie ihres Weges ziehen! Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben.“
Die heutigen Jihadisten berufen sich an dieser Stelle auf die klassische Lehre der Abrogation, mit der bereits die frühen Gelehrten Widersprüche zwischen einzelnen Aussagen der islamischen Quellen auflösen wollten. Sie besagt, dass die späten Verse die früheren abrogieren bzw. aufheben. Der Schwertvers hat dementsprechend rund 140 Verse abrogiert, die zum geduldigen Ertragen der Anfeindungen aufrufen oder den Kampf gegen die Ungläubigen strikt auf das Prinzip der Vergeltung beschränken. Bereits die frühen Gelehrten hielten daher den sog. „Jihad des Angriffs“ grundsätzlich für eine kollektive Pflicht der Umma: Der Herrscher der muslimischen Gemeinschaft sollte mindestens einmal im Jahr das Gebiet der Ungläubigen, das „Haus des Krieges“, angreifen und damit den islamischen Herrschaftsbereich, das „Haus des Islam“, erweitern.
Das Ende der frühen Toleranz gegenüber Juden und Christen
Im Zuge der gewachsenen Macht Muhammads und der zunehmenden Konfrontation mit den heidnischen Mekkanern veränderte sich auch der Ton des Korans gegenüber den Juden und Christen. Die frühen Verse aus mekkanischer Zeit beschreiben sie noch als Buchbesitzer, an die sich die Gläubigen sogar mit ihren Fragen wenden sollen. Muhammad übernimmt die jüdische Gebetsrichtung (Jerusalem) und das Fasten am großen Versöhnungstag. Die Christen werden für ihren Glauben und ihre Demut gelobt. Nach Sure 16,125 sollen die Gläubigen „mit Weisheit und schöner Ermahnung“ zum Islam einladen und nur „auf die beste Art“ mit ihren Gesprächspartnern streiten. Nach Sure 2,256 gibt es „keinen Zwang in der Religion“. Die fortgesetzte Ablehnung durch die Juden (und Christen) in Medina lässt Muhammad jedoch schließlich auch an der politischen Loyalität der Juden zweifeln. Fortan grenzt er sich stärker von den Juden und Christen ab und betont den arabischen Charakter des islamischen Glaubens und wirft den Buchbesitzern Polytheismus und Verdrehung des Wortes Gottes vor. Statt sich im Gebet wie bisher weiter nach Jerusalem zu wenden, fordert der Koran die Gläubigen nun auf, sich im Gebet nach Mekka hin auszurichten. „Abraham weder Jude noch Christ“ heißt es in Sure 3,67, und Sure 5,51 warnt: „O ihr, die ihr glaubt, nehmt euch nicht die Juden und Christen zu Freunden.“ Jeweils nach den ersten großen Schlachten gegen die Mekkaner greift Muhammad die jüdischen Stämme unter dem Vorwurf des Vertragsbruchs an. Zwei Stämme werden vertrieben, die Männer eines dritten getötet und ihre Frauen und Kinder versklavt. In einem der späteren Verse (Sure 9,29) heißt es:
„Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Gott und den jüngsten Tag glauben und nicht verbieten (oder: für verboten erklären), was Gott und sein Gesandter verboten haben, und nicht der wahren Religion angehören – von denen, die die Schrift erhalten haben – (kämpft gegen sie), bis sie kleinlaut aus der Hand (?) Tribut entrichten!“
Auch hier gehen Jihadisten in Übereinstimmung mit der Mehrheit der frühen Gelehrten davon aus, dass dieser Vers die positiven und milden Aussagen der mekkanischen Frühzeit aufgehoben hat.
Die Kontextualisierung der heutigen Islamisten
In Abgrenzung von den Jihadisten betonen Islamisten wie al-Qaradawi die modernen friedlichen Mittel und Möglichkeiten zur Ausbreitung der islamischen Herrschaft im Westen. Sie sprechen vom Jihad des Herzens und der Zunge, vom Jihad der Medien und des Internets und beharren darauf, dass der gewaltsame Jihad stets nur eine Verteidigung gegen die islamfeindlichen Aggressoren ist. Sie sehen die klassische Abrogationslehre kritisch und sprechen sich stattdessen für eine ständige Kontextualisierung einzelner Stellen aus. Je nach dem, in welcher Situation sich die muslimische Gemeinschaft gerade befindet, greifen sie entweder auf die frühen oder die späten, die friedlichen oder die kämpferischen Verse zurück. So berufen sie sich in Europa gerne auf die frühen Verse, um den Islam als eine tolerante und friedfertige Religion darzustellen, die sowohl im Gegensatz zum islamistischen Terror als auch zu den christlichen Kreuzzügen stehe. Al-Qaradawi und ihm nahestehende Theologen rechnen mit einer friedlichen Eroberung Europas durch eine „Armee von Predigern“ und sehen die muslimische Gemeinschaft quasi auf dem Weg von Mekka nach Medina, von der beherrschten Minderheit zur herrschenden Mehrheit.
Radikalisierungsstudien: Fließende Übergänge zwischen Islamisten und Jihadisten
Radikalisierungsstudien belegen, dass die Übergänge zwischen Islamisten und Jihadisten fließend sind. Auch wenn sie milde im Ton und kompromissbereit in der Sache sind, bereiten Islamisten den ideologischen Nährboden für den jihadistischen Terrorismus. Beide Strömungen beharren auf der Einheit von Staat und Religion, halten am Herrschaftsanspruch des (medinensischen) Islam fest und berufen sich dabei auf unhinterfragbare und zeitlos gültige Aussagen der islamischen Quellen. Islamische Anti-Terror-Kampagnen müssen daher genau an diesem Punkt ansetzen, wenn sie über bloße Apologetik hinausgehen wollen: Letztlich ist eine umfassend friedliche Deutung des Islam nur durch eine grundsätzliche Absage an den islamischen Herrschaftsanspruch und einen kritischen Zugang zu den Quellen und dem Vorbildcharakter Muhammads möglich, so Carsten Polanz vom Insitut für Islamfragen.
Zum freien Abdruck, auch einzeln und auszugsweise – Belegexemplar erbeten.