Pressemitteilung zur ägyptischen Muslimbruderschaft

Institut für Islamfragen

Die Muslimbrüder und die Zukunft Ägyptens – Demokratie im Rahmen der Scharia?

B O N N (28. Februar 2011) Islam (und andere Religionen) im Rahmen der Demokratie, oder Demokratie in der Zwangsjacke der Scharia? Das Ziel der ägyptischen Muslimbruderschaft sei eine Demokratie im Rahmen der Scharia – nicht umgekehrt. Auf dem Weg zu diesem Ziel sei sie jedoch, anders als militante Gruppierungen, zu Kompromissen und Übergangslösungen bereit. Diese Einschätzung vertritt die Islamwissenschaftlerin Prof. Christine Schirrmacher vom Institut für Islamfragen in der aktuellen Diskussion um die künftige Rolle der ägyptischen Muslimbrüder. Unter Mubarak waren die Muslimbrüder jahrzehntelang offiziell verboten, aber als größte politische Oppositionsgruppe geduldet. Jetzt bereiten sie die Gründung einer „Partei für Frieden und Gerechtigkeit“ vor. Am vergangenen Freitag kehrte einer ihrer offiziellen Chefideologen, der gebürtige Ägypter Yusuf al-Qaradawi, zum „Tag des Sieges“ nach Kairo zurück. Nach über 30 Jahren Predigtverbot durfte al-Qaradawi erstmals wieder das Freitagsgebet leiten – vor Hunderttausenden auf dem Tahrir-Platz. Ausgerechnet die „Koalition der Jugend der Revolution“ hatte den derzeit über Fernsehen und Internet einflussreichsten muslimischen Gelehrten eingeladen – laut Christine Schirrmacher ein Besorgnis erregendes Signal angesichts der Haltung al-Qaradawis zu Demokratie und Menschenrechten, Israel und Selbstmordattentaten.

Demokratie, soweit sie die unanfechtbaren Bestimmungen des Islam achtet

Wer die Schriften al-Qaradawis näher untersucht, stößt auf ein ambivalentes Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten. Auf der einen Seite spricht er sich deutlich gegen autoritäre und totalitäre Herrschaftsformen aus und legt dar, dass die islamische Erweckungsbewegung stets nur in einer Atmosphäre politischer Freiheit und Demokratie Frucht getragen habe. Dazu gehören für ihn unter anderem die Verantwortung der Regierung gegenüber dem Parlament, das Recht auf Opposition und die freie Presse. Auf der anderen Seite wettert er gegen die westliche Demokratie „mit ihren schlechten Ideologien und Werten“. Bezeichnend ist auch al-Qaradawis Vorschlag zur Überwindung muslimischer Vorbehalte gegenüber der Demokratie: In der Verfassung muslimischer Staaten soll in einem Artikel festlegt werden, dass jedes Gesetz, das den unanfechtbaren Bestimmungen des Islam widerspricht, null und nichtig ist. Seine Begründung: Der Islam sei die Staatsreligion und die Quelle der Legitimität aller staatlichen Institutionen. Welche Gesetze mit dem Islam vereinbar sind, sollen aus Sicht der Muslimbrüder zukünftig die führenden muslimischen Rechtsgelehrten des Landes entscheiden – und zwar unabhängig von staatlichen Vorgaben. Der Vorrang der Scharia gilt auch für die Menschenrechte. Wer erkennbar vom Islam „abfällt“, geschweige denn seine Glaubensgrundsätze und rechtlichen Bestimmungen öffentlich kritisiert, ist für al-Qaradawi ein Verräter des Staates, der von den politisch Verantwortlichen notfalls mit dem Tod bestraft werden muss. Vor diesem Hintergrund ist laut Schirrmacher kaum zu erwarten, dass sich die Muslimbruderschaft, die al-Qaradawi mehrmals die Führung angeboten hat, für mehr Religions- und Meinungsfreiheit einsetzen wird.

Die Ideologie: Islam als allumfassendes und revolutionäres Heilmittel

Als Hassan al-Banna 1928 die ägyptische Muslimbruderschaft gründete, ging es ihm vor allem um den Widerstand gegen die hegemonialen Ansprüche der Briten und die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft. Die Bruderschaft sollte sich für eine Rückkehr zu islamischen Moralvorstellungen einsetzen und sozial engagieren. Zehn Jahre später formierten sich die Muslimbrüder jedoch bereits zur politischen Gruppierung. Al-Banna predigte den Islam als umfassendes und revolutionäres Heilmittel für alle gesellschaftlichen und politischen Missstände. Indem die Muslimbrüder eigene Unternehmen gründeten, Schulen und Krankenhäuser unterhielten und wichtige Posten in Armee und Gewerkschaften besetzten, bildeten sie bald eine Art Staat im Staate. Das führte zu einer zunehmenden Konfrontation mit der ägyptischen Regierung. Muslimbrüder ermordeten 1948 Premierminister Fahmi An-Nuqrashi. Hasan al-Banna, der jede Verantwortung für militante Aktionen der Gruppe abgestritten hatte, wurde 1949 selbst Opfer eines Anschlags. Präsident Nasser verbot die Muslimbruderschaft und ließ zahlreiche Anhänger verhaften.

Sayyid Qutb und der gewaltsame Jihad für eine wahrhaft islamische Gesellschaft

Nach dem Verbot radikalisierte sich die Muslimbruderschaft zunehmend. Ihr ideologischer Vordenker Sayyid Qutb (1906-1966) erklärte sich den mangelnden Widerstand der ägyptischen Führung gegen die Briten und die Vernachlässigung islamischer Prinzipien in der Gesellschaft mit dem Rückfall in die sog. Jahiliya. Muslimische Theologen beschreiben mit diesem arabischen Begriff eigentlich „die vorislamische Zeit absoluter Unwissenheit“. Aus Qutbs Sicht befanden sich nicht nur die nichtislamische Welt, sondern auch die meisten muslimischen Gesellschaften Mitte des 20. Jahrhunderts in diesem Zustand der Ignoranz. Die Regierungen seiner Zeit verglich er mit dem in biblischen wie koranischen Quellen beschriebenen ägyptischen Pharao. Die „unzivilisierten Tyrannen und Unterdrücker“ müssten notfalls durch gewaltsamen Jihad gestürzt werden. Qutb selbst wurde mehrfach verhaftet und 1966 schließlich hingerichtet. Militante Aktivisten nach ihm bezogen sich auf seine Schriften, um ihre Attentate gegen die ägyptische Regierung oder westliche Touristen zu rechtfertigen. Der Anführer des Attentats auf Präsident Anwar as-Sadat am 6. Oktober 1981 rief aus: „Ich habe den Pharao getötet.“

Die Muslimbrüder heute: Schrittweise Islamisierung statt gewaltsamem Umsturz

Bereits in den 1970er Jahren hat sich die Muslimbruderschaft gegen die sog. Qutbisten und die militanten Abspaltungen ihrer Bewegung ausgesprochen. Dennoch verehren viele von ihnen Qutb bis heute als Märtyrer. Sie lehnen jedoch sein Konzept einer gewaltsamen islamischen Revolution ab. Für sie geht es vielmehr um einen Prozess schrittweiser Islamisierung. Sowohl in Ägypten als auch über ihre weltweiten Ableger sollen dabei zunächst alle friedlichen, politischen und institutionellen Mittel ausgeschöpft werden und ein positives Bild des Islam propagiert werden, um der islamischen Rechtsvorstellung mehr Geltung zu verschaffen. Al-Qaradawi fordert immer wieder die Einhaltung von Prioritäten und das Abwägen zwischen dem Idealen und dem Möglichen. Anhänger der Erweckungsbewegung sollen alle Gesellschaftsbereiche durchdringen – von Bildung und Wissenschaft bis zur Sozial- und Wirtschaftspolitik. Dabei betont er die Schlüsselrolle der Medien. Der „Jihad unserer Zeit“ findet nach seiner Einschätzung im Internet statt. Aufwendige islamische Internetseiten und Portale sollen Werbung für den islamischen Glauben machen. Internationale Gremien muslimischer Rechtsgutachter sollen sich um die Einheit der globalen muslimischen Gemeinschaft kümmern und nicht zuletzt über die Online-Fatwas die Islamisierung des Lebensstils – insbesondere in der westlichen Diaspora – steuern.

Hasserfüllte Feindschaft gegen Israel und Verherrlichung von Selbstmordattentaten

Auch für Israel bedeutet der Besuch al-Qaradawis nichts Gutes. Für Israel war Ägypten in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger, weil friedlicher und verlässlicher Nachbar. In seiner Rede am vergangenen Freitag sprach al-Qaradawi von der Hoffnung, demnächst auf dem Tempelberg in Jerusalem predigen zu können. In leidenschaftlichen Predigten verurteilt er jegliche Bemühungen um einen dauerhaften Frieden als Verrat an der muslimischen Gemeinschaft. In einem Interview mit al-Jazeera vom 28. Januar 2009 sprach er von der göttlichen Strafe für das verkommene jüdische Volk. Die letzte Strafe habe Hitler vollzogen. Auch wenn er übertrieben habe, sei es ihm gelungen, die Juden auf ihren Platz zu verweisen. So Gott will, würde die nächste Bestrafung durch die Hand der Gläubigen erfolgen. Er wünsche sich, notfalls mit dem Rollstuhl ins Land des Jihads und des Widerstands zu

gehen und auf Allahs Feinde, die Juden, zu schießen. Auf diese Weise würde er als Märtyrer sterben. Das klingt ganz ähnlich wie die Gründungscharta der Hamas, die Ende der 1980er Jahre aus der dortigen Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. In zahlreichen Predigten hat al-Qaradawi zudem die palästinensischen Selbstmordattentate als „heroische Märtyreroperationen“ gerechtfertigt. Er verweist dabei auf den militärischen Charakter der israelischen Gesellschaft, in der jeder früher oder später Soldat sei. Auf der anderen Seite hat er die Anschläge vom 11. September 2001 scharf verurteilt. Solche Taten seien völlig unvereinbar mit der islamischen „Religion der Toleranz“, die der menschlichen Würde einen hohen Wert beimesse. Was seine Kritiker als Doppelzüngigkeit und Widersprüchlichkeit verurteilen, versteht er selber als notwendige Kontextualisierung.

Für den Fall, dass die Muslimbrüder mehr politischen Einfluss gewinnen sollten, dürften die Chancen für mehr Menschen- und Bürgerrechte und eine Stabilisierung des Nahen Ostens schwinden, so Christine Schirrmacher.

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