Gülens „Bildungsjihad“: Neue Begriffe für alte Inhalte
B O N N (13. Mai 2011) „Unser Jihad ist die Bildung“ ist das Motto der weltweiten Bewegung des türkischen Predigers Fethullah Gülen. Nur selten werde kritisch hinterfragt, um welche Art von Bildung es gehe, erklärte die Islamwissenschaftlerin Prof. Christine Schirrmacher vom Institut für Islamfragen. Anlass waren die jüngsten Versuche türkischer Behörden, mit allen Mitteln die Veröffentlichung kritischer Bücher zu unterbinden, in denen eine mögliche Unterwanderung des türkischen Staates durch die Anhänger der Gülen-Bewegung thematisiert wird (siehe dazu Hintergrundinformation unten). In Deutschland präsentieren sich die zahlreichen mit Gülen verbundenen Bildungseinrichtungen und Dialoginitiativen gerne als tolerante und weltoffene Vermittler zwischen Tradition und Moderne. Wer jedoch die Schriften Gülens und seiner Anhänger lese, stoße auf ein streng konservatives Islamverständnis, das die islamische Geschichte idealisiert und alles Erlaubte und Verbotene aus der Scharia ableitet, meint Schirrmacher. Was Gülen von anderen Islamisten unterscheidet, ist weniger der Inhalt seiner Botschaft als die Mittel und Methoden, diesem Inhalt Geltung zu verschaffen. Gülen will die Technologien der Moderne nutzen und ihre Institutionen schrittweise islamisieren, so Schirrmacher.
Der säkulare Staat als zu mächtiger Gegner: Mitgestaltung statt Rückzug
Gülen bezieht sich vor allem auf Said Nursi, den Gründer des Sufi-Ordens „Nurculuk“. Der säkulare Staat (im Fall der Türkei: der laizistische Staat) erscheint beiden zu mächtig für eine direkte Konfrontation. Daher propagieren sie die religiöse Mitgestaltung des naturwissenschaftlichen und technologischen Zeitalters. Globalisierung wird nicht länger als Gefahr, sondern als Chance begriffen. Muslime sollen sich engagieren und ihre Gesellschaft nach islamischen Werten mitgestalten – weniger durch Moscheebau als durch Aufbau von Bildungseinrichtungen, durch die mediale Verbreitung der Ideen und die wirtschaftliche Stärkung der Bewegung durch eigene Unternehmerverbände. Heute ist die Bewegung in über 100 Ländern rund um den Globus aktiv und vor allem dort einflussreich, wo es größere türkische Minderheiten gibt. In der Türkei unterhält sie neben einer eigenen Universität in Istanbul rund 200 Privatschulen, 500 Nachhilfezentren, 150 Vorbereitungszentren für die Universität und zahlreiche Internate. In Deutschland sind es bereits 150 Nachhilfevereine, 24 Privatschulen sowie zahlreiche Dialoginitiativen. Unter dem Dach der sog. World Media Group verfügt das Netzwerk über eine Nachrichtenagentur, einen Fernsehsender, mehrere Zeitschriften und Verlage. Eines der wichtigsten Kommunikationsmittel des Netzwerkes ist die auflagenstärkste türkische Tageszeitung „Zaman“, die auch in zahlreichen anderen Sprachen und einer eigenen europäischen Ausgabe erscheint. Nach Angaben des Turkologen Kemal Silay fühlen sich 500 Firmen weltweit mit dem Gedankengut Gülens verbunden und finanzieren den „Bildungsjihad“.
Der Westen als Alleinschuldiger und der Islam als Allheilmittel
Während sich die Lehrpläne an den staatlichen Vorgaben orientieren und statt Religions- lediglich Ethikunterricht anbieten, wird häufig in den außerschulischen Zusatzangeboten eine streng islamische Unterweisung angeboten. In den zahlreichen Büchern, Zeitungen und Zeitschriften der Gülen-Bewegung geht es mehr um naturwissenschaftliche Themen als um theologische Debatten. Doch müssen alle wissenschaftlichen Fakten an den Aussagen des Korans und der islamischen Überlieferung gemessen werden. Gülen selbst versteht die Wissenschaft als einen „Weg, Gott kennenzulernen“ und die bereits in den islamischen Quellen enthaltenen Wahrheiten in der Schöpfung zu entdecken. Die islamische Offenbarung erhebt dabei einen absoluten und totalen Anspruch auf die Lebensführung des Menschen. Während die Missachtung der göttlichen Ordnung (Scharia) für alle Missstände in der Welt verantwortlich gemacht wird, erscheint die Einhaltung ihrer Vorschriften als Lösung aller menschlichen Probleme. Nur im Islam findet der Mensch demnach zur Einheit von Glauben und Wissen zurück. Entsprechend einseitig ist das Geschichtsbild der Bewegung. Demnach hat sich allein der Westen des Totalitarismus, des Imperialismus und des Sklavenhandels schuldig gemacht. Der Islam dagegen wird idealisiert, traditionelle Konzepte und historische Tatsachen werden in apologetischer Absicht umgedeutet. Offensichtliche Diskriminierungen der Frau im Koran erscheinen als Privilegien, die lediglich den Schutz der Frau bezwecken. Beim Jihad ging es, nach Gülen, stets nur um den „Kampf gegen fleischliche Gelüste und schlechte Neigungen“, sowie die „Ermutigung anderer, das gleiche Ziel zu erreichen“. Mit säkularer Bildung und einer ernsthaften kritischen Auseinandersetzung mit der islamischen Geschichte und Gegenwart hat dies aus Sicht Schirrmachers nichts zu tun.
Wer Kritik am Islam übt, provoziert „Blutbad wie zu Zeiten der Kreuzzüge“
Gülens Nähe zum Islamismus wird besonders deutlich in der Tabuisierung jeglicher Islamkritik. Seine Reaktion auf kritische Äußerungen Papst Benedikt XVI. zur Anwendung von Gewalt im Islam folgt der typischen islamistischen Argumentationsweise. Muslime hätten ein Recht auf eine Entschuldigung des Papstes, der durch seine Beleidigungen und Provokationen den Gottesglauben der Muslime missachtet und dem Propheten Gehässiges unterstellt habe. Die Äußerungen des Papstes könnten radikale Gruppierungen ermutigen und dazu führen, dass „die Erde in ein Blutbad wie zu Zeiten der Kreuzzüge versinkt“. Damit dreht Gülen wie sämtliche Islamisten den Spieß kurzerhand um und wirft dem Westen und der christlichen Kirche einen erneuten Kreuzzug gegen den Islam vor – dieses Mal im Namen der Islamkritik. Militante Reaktionen von Muslimen wiederum haben nichts mit dem Islam zu tun, da „jede Botschaft des Islams eine Melodie des universalen Friedens, eine Dichtung, die mit jedem Atemzug gesellschaftliche Harmonie, Toleranz und offene Dialogbereitschaft verströmt.“ Ein solcher Islam erscheint dann folgerichtig als Ursprung und Garant der Menschenrechte, Kritik am Islam und dem Vorbildcharakter seines Propheten dagegen als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens. Dieses Verständnis entspricht der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990, in der Menschenrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit nur im Rahmen der Scharia garantiert werden.
Gülens Marsch durch die Institutionen: Verstellung erlaubt
Weitere Kritikpunkte an der Gülen-Bewegung betreffen die Mehrdeutigkeit ihrer Aussagen und die fehlende Transparenz und „Unfassbarkeit“ ihrer Organisation. Offiziell arbeiten die einzelnen Einrichtungen relativ unabhängig voneinander. Die Leiter einzelner Bereiche und Regionen sind allerdings durch persönliche Kontakte und die Verpflichtung auf das Denken ihres „Lehrers“ miteinander verbunden. Die Gesamtkoordination der Aktivitäten übernimmt eine Arbeitsgemeinschaft „gleichberechtigter Brüder“ in Istanbul. Die Anhänger der Gülen-Bewegung können jüngste Vorwürfe der Unterwanderung des Staates schon deshalb schwer widerlegen, da bereits 1999 eine eigentlich nicht für die Öffentlichkeit gedachte Videobotschaft im türkischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, in der Gülen sich mit folgenden Worten an seine Anhänger wendet:
„Die Anwesenheit unserer Schüler in der Justizverwaltung und dem übrigen Staatsapparat ist der Garant für unsere Zukunft […] Ihr müsst, ohne aufzufallen und ohne auf euch aufmerksam zu machen, an die Schaltstellen der Macht gelangen […] Für unsere große Sache ist es euch erlaubt, euch zu verstellen.“
Nachdem Gülen lange Zeit gerade von den rechtsnationalistischen und konservativen Parteien und Teilen des Militärs in der Türkei als „Vorzeigemuslim“ dargestellt und seine Synthese von Islam und türkischem Nationalismus von staatlichen Institutionen lautstark unterstützt worden war, geriet er Ende der 1990er zunehmend in das Fadenkreuz dieser Kräfte, die ihm vorwarfen, einen Staat im Staate errichten zu wollen. Nach Veröffentlichung des erwähnten Videos setzte sich Gülen in die USA ab, wo er bis heute lebt. Politischen Rückhalt findet seine Bewegung derzeit vor allem in der regierenden AKP von Ministerpräsident Erdogan, in der seine Anhänger zu den intellektuellen Vordenkern gehören.
Angesichts dieser offensichtlich islamistischen Tendenzen ist laut Schirrmacher auch in Deutschland eine kritischere Auseinandersetzung mit den Zielen und Strategien der Gülen nahestehenden Einrichtungen erforderlich. Vertraute Begriffe des Diskurses wie Freiheit, Toleranz und Dialog könnten ganz unterschiedlich definiert und verstanden werden. Hier brauche es mehr Mut zu unangenehmen, aber notwendigen Rückfragen, erklärte Schirrmacher.
Die jüngste Verhaftung des türkischen Journalisten Ahmet Sik rief scharfe Kritik inner- und außerhalb der Türkei hervor. Offiziell wird er der Mitgliedschaft in einer „Terrorgruppe“ beschuldigt. Dieser Vorwurf scheint jedoch lediglich ein Vorwand zu sein, um die Veröffentlichung seines neuesten Buches „Die Armee des Imam“ zu verhindern, in dem Sik die Unterwanderung des türkischen Polizei- und Sicherheitsapparates durch die Anhänger der Gülen-Bewegung beschreibt. Versuche der Istanbuler Polizei, jegliche Manuskripte aus dem Verkehr zu ziehen, sind gescheitert. Mittlerweile ist das Buch bereits weit über hunderttausendmal im Internet heruntergeladen worden. Sik ist dabei kein Einzelfall. Auch der ehemalige Geheimdienstler und Polizeioffizier Hanef Avci wird der Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe angeklagt. Auch er hatte zuvor ein Buch über die Islamisierungsstrategie der Gülen-Bewegung geschrieben.
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