Pressemeldung zum islamischen Minderheitenrecht

Institut für Islamfragen

Das islamische Minderheitenrecht und der Traum von der islamischen Eroberung des Westens

(BONN, 15.12.2012) Laut dem Islamwissenschaftler Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen hat sich al-Qaradawi bereits im Januar dieses Jahres in einem Interview mit dem ägyptischen Fernsehsender an-Nahar TV dafür ausgesprochen, die Menschen in Ägypten nicht durch zu schnelle Veränderungen abzuschrecken. Die Körperstrafen der Scharia sollten vorerst nicht angewendet, sondern das Volk sollte zunächst fünf Jahre lang über den „wahren Islam“ aufgeklärt und belehrt werden. Die Scharia solle auf diese Weise schrittweise wieder eingeführt und die Gesellschaft allmählich in eine wahrhaft islamische „unter der Leitung der göttlichen Scharia“ umgewandelt werden. Eine ganz ähnliche Strategie der schrittweisen Islamisierung verfolgt al-Qaradawi laut Polanz auch mit den von ihm gegründeten Institutionen in Europa. Mit dem sogenannten Konzept des islamischen Minderheitenrechts sollen Muslime langfristig an die Scharia gebunden und gleichzeitig nützliche Zwischen- und Übergangslösungen gerechtfertigt werden.

Die islamischen Gelehrten

Darf ein Muslim im Lande der Ungläubigen bei McDonalds arbeiten und auch Schweinefleisch verkaufen? Mit dieser und vergleichbaren Fragen müssen sich Muslime und islamische Gelehrte befassen. Wenn hier von islamischen Gelehrten die Rede ist, sind „gemäßigte Islamisten“ gemeint, die heute  in den meisten islamischen Ländern als Dozenten in den islamischen Fakultäten und Prediger in den Moscheen maßgebend sind und auch unter Muslimen in nicht islamischen Ländern wie Deutschland großen Einfluss haben. Zum Beispiel Yusuf al-Qaradawi: Der 1926 in Ägypten geborene und seit 1960 in Katar lebende „Medien-Scheich“ wurde vor allem durch seine Fernsehsendung „Die Scharia und das Leben“ auf al-Dschasira und von ihm initiierte Internetseiten bekannt. Er hat über 130 Bücher veröffentlicht und gilt als eine Art inoffizieller Chefideologe der Muslimbruderschaft. Bereits 1960 verfasste al-Qaradawi im Auftrag des Instituts für islamische Kultur an der al-Azhar-Universität Kairo ein Buch mit dem Titel al-Halal wa-l-Haram fi-l-Islam („Das Erlaubte und das Verbotene im Islam“), das insbesondere Muslimen im Westen als Leitfaden für ein islamgerechtes Leben dienen soll. Das Buch hat bisher allein 30 arabische Auflagen erlebt und ist mittlerweile in zahlreiche Sprachen – darunter auch Englisch, Deutsch und Französisch – übersetzt worden.

Al-Qaradawis Vision für Europa: Der Islam wird siegreich zurückkehren, nachdem er in der Geschichte zweimal aus Europa vertrieben wurde. Allerdings werde Europa diesmal nicht mit Schwert oder Kampf, sondern durch die Da‘wa – Predigt und Ideologie – erobert. Nach al-Qaradawis Analyse befindet sich Europa mit seinem ausgeprägten Materialismus und der „Philosophie der sexuellen Freizügigkeit“ in einem erbärmlichen Zustand. Um seine Vision zu realisieren hat al-Qaradawi in London unter anderem den „European Council for Fatwa and Research“ (ECFR) und die „Internation Union of Muslim Scholars“ (IUMS) gegründet, die beide eng mit der Ideologie der Muslimbruderschaft verbunden sind.

Muslime in nicht-islamischen Ländern – eine neue theologische Herausforderung

Für die klassische islamische Theologie war und ist die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten viele Muslime aus islamischen Ländern in nicht islamische Länder gezogen sind, eine große und neue Herausforderung. Maßgebliche islamische Gelehrte teilten die Welt bis dahin in zwei Bereiche auf. Im „Haus“ oder „Gebiet des Islam“ (dar al-islam) waren der Islam und damit die Scharia vorherrschend, während im „Haus des Unglaubens“ (dar al-kufr) bzw. „Haus des Krieges“ (dar al-harb) die  Ungläubigen mit ihren Werten und Rechtsbestimmungen herrschten, weil der Islam noch keine Vormachtstellung erreicht hatte. Grundsätzlich war es einem Muslim verboten, in das Gebiet des Unglaubens auszuwandern oder gar dauerhaft unter der Herrschaft von Nicht-Muslimen in deren Gebieten zu leben. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchten einflussreiche Gelehrte und Aktivisten der sogenannten islamischen Erweckung (auch „Re-Islamisierung“), diese traditionelle Sicht zu revidieren und in den islamischen Quellen Ansatzpunkte für eine Rechtfertigung der dauerhaften Präsenz von heute rund 20 Millionen Muslimen in Westeuropa und ca. 7 Millionen in den USA zu finden. Führende Islamisten erkannten zudem, dass ihre ideologisch-politischen Bewegungen viel größere Entfaltungsmöglichkeiten haben als in ihren islamischen Heimatländern, aus denen sie vor Verfolgung durch Autokraten oder Militärdiktaturen geflohen waren. Aus ihrer Sicht bieten die umfassenden politischen Freiheiten in den rechtsstaatlichen Demokratien des Westens unvergleichliche Chancen zur Da’wa (wörtlich: Einladung), der islamischen Form der Mission. Bei der Da’wa geht es diesen Gruppierungen jedoch keineswegs nur um die Verbreitung eines persönlichen Glaubens, sondern stets auch um die schrittweise Durchsetzung einer alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche umfassenden Ordnung. An deren Endpunkt steht idealerweise der ganz von der Scharia beherrschte islamische Staat (nach einem erfolgreichen Marsch durch die Institutionen).

Islamische Mission in Deutschland

Um ihre Konzepte eines „islamischen Minderheitenrechts“ zu rechtfertigen, beziehen sich viele Gelehrte heute immer stärker auf eine dritte Kategorie bei der Einteilung der Welt, die zwar bereits in früheren rechtswissenschaftlichen Werken auftaucht, dort aber nur eine untergeordnete Rolle spielt. Beim sogenannten „Haus des Vertrages“ (dar al-ahd) handelt es sich um solche Gebiete, mit denen die islamische Gemeinschaft in einer Art Vertragsbeziehung steht. Zwischen dem islamischen Gebiet und dem „Haus des Vertrages“ herrscht eine Art Waffenstillstand. Hierunter wird nun häufig auch Europa gefasst.

Die Idee des islamischen Minderheitenrechts ist von Anfang an mit der Entwicklung einer auf den Westen zugeschnittenen Da’wa-Strategie verbunden. Die grundsätzliche Überordnung der Scharia und ihrer wesentlichen Prinzipien soll gewahrt bleiben; mit Rücksicht auf die besonderen Lebensumstände und Bedürfnisse der Minderheiten werden jedoch flexible Ausnahme- und Übergangslösungen gerechtfertigt, z. B.:

Obwohl der Verkauf von Schweinefleisch grundsätzlich verboten ist und bleibt, darf ein Muslim also nach dem Minderheitenrecht unter der vorübergehenden Herrschaft der Ungläubigen auf Grund der ökonomischen Zwänge ausnahmsweise weiter seinen Lebensunterhalt bei McDonald‘s verdienen, wenn er sich gleichzeitig intensiv um eine alternative Arbeitsstelle bemüht.

Im Westen durchlaufen die islamischen Minderheiten nach al-Qaradawi einen siebenstufigen Prozess. In der fünften Phase kommt es durch den Bau von Moscheen und die Gründung islamischer Schulen und Organisationen zum Aufbau eigener islamischer Institutionen, die bei al-Qaradawi durchaus im Sinne parallelgesellschaftlicher Strukturen zu verstehen sind. In der sechsten Phase gewöhnt sich die nicht-islamische Mehrheitsgesellschaft an die dauerhafte und sichtbare Präsenz des Islam.

Die siebte Phase

Nach al-Qaradawis Vision sollen sich muslimische Minderheiten in der gegenwärtigen letzten Phase um Professionalisierung auf allen Gebieten und Ebenen bemühen. Dabei dürfen sie alles ihnen Nützliche, das nicht im Widerspruch zu den festen, unveränderlichen Grundlagen ihrer Religion steht, adaptieren und zur Durchsetzung ihrer Werte nutzen.  Dahinter steht die Vorstellung, dass Anhänger der islamischen Erweckungsbewegung künftig Schlüsselpositionen in der Gesellschaft einnehmen, um die westlichen Wissenschaften und ihre Konzepte der Demokratie und der Menschen- und Bürgerrechte zu islamisieren. Anhänger des islamischen Minderheitenrechts präsentieren sich gerne lautstark als Befürworter dieser Ideen, ohne erkennen zu lassen, dass demokratische Entscheidungen sowie Grundrechte wie die Glaubens- und Meinungsfreiheit in ihrem ideologischen Denken nur insoweit Gültigkeit besitzen, als sie der Scharia nicht widersprechen. Sie argumentieren dabei ganz ähnlich, wie es die 45 Außenminister islamischer Staaten in der 1990 in Kairo verfassten Erklärung der Menschenrechte im Islam taten. Eine Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie Muslimen und Nicht-Muslimen ist in diesem Denken ausgeschlossen.

Etikettenschwindel: Die „neue Sprache“ der Da’wa

Polanz weist auch darauf hin, dass sich Vordenker des Minderheitenrechts auch in unterschiedlichem Maße für eine „neue Sprache“ der Da’wa aussprechen, um eine pro-islamische Atmosphäre im Westen zu schaffen. Muslime sollen demnach jegliche Terminologie meiden, die beim Zielpublikum im Westen negative Assoziationen auslösen könnte. Sie sollen stattdessen eine Sprache wählen, die Rücksicht auf die europäischen Sensibilitäten nimmt. Al-Qaradawi und andere vermeiden es in aller Regel, im europäischen Kontext von der Aufrichtung des islamischen Staates zu sprechen. Um eine größere Akzeptanz unter Nicht-Muslimen zu erreichen, beschreiben sie den Islam häufig als „Religion des Friedens“ und „der Toleranz“, den Jihad als bloßen Kampf gegen die eigenen charakterlichen Schwächen und Widerstand gegen Besatzung und Unterdrückung und das islamische Scharia-System als eine „gerechte Ordnung“ oder als Garant für „soziale Gerechtigkeit“.

Für Polanz ist es daher von entscheidender Bedeutung, sich nicht durch Begriffe beeindrucken zu lassen, sondern zu klären, was damit gemeint ist, und zwar konkret: Wird die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, von Muslimen und Nicht-Muslimen uneingeschränkt anerkannt und befürwortet? Im Familienrecht, im Erbrecht, im Prozessrecht, im Strafrecht? Wird das Gewaltmonopol des Staates uneingeschränkt anerkannt, also auf das Prinzip der Vergeltung verzichtet? Werden das private und öffentliche Recht und die Gerichtsbarkeit in Deutschland uneingeschränkt akzeptiert? 

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