Militante Gruppen in Deutschland werben für den Dschihad: Auch die islamischen Dachverbände sind gefordert
Der ägyptische Autor Tawfik Hamid hat am eigenen Beispiel das salafistische Dschihad-Denken nachgezeichnet
(Bonn, 30.04.2014) Zahlreiche Studien zeigen, dass salafistische Ideologien einen idealen Nährboden für militante Gruppierungen bieten. Der ägyptische Autor Tawfik Hamid hat in seinem Buch „Inside Jihad“ am eigenen Beispiel die Entwicklungsstufen hin zu einem salafistischen Dschihad-Denken nachgezeichnet. Dabei hat er zunächst die systematischen Versuche der ideologischen Führer beschrieben, die Mitglieder ihrer Gruppe von allen „unislamischen“ Einflüssen abzuschotten, ihr religiöses und moralisches Überlegenheitsgefühl zu stärken und gleichzeitig ihr (selbst)kritisches Denken zu unterdrücken. Koranische Aufforderungen zum Kampf gegen die Ungläubigen und abwertende Aussagen über Juden, Christen und Heiden werden genutzt, um einen permanenten Kriegszustand zwischen den wahrhaft Gläubigen auf der einen und den Ungläubigen sowie den vermeintlichen Heuchlern und Abgefallenen in den eigenen Reihen auf der anderen Seite zu propagieren.
Gewalt ist in diesem Denken zumindest als notwendiges Mittel der „Verteidigung“ legitim – und zwar gegen all jene islamfeindlichen Mächte, die sich auf regionaler und globaler Ebene der umfassenden Durchsetzung der Scharia und damit – aus ihrer Sicht – der Aufrichtung der natürlichen und gottgemäßen Ordnung widersetzen. Schon der zweifelnde Gedanke wird zur Sünde erklärt; den Halbherzigen und Unentschlossenen werden die im Koran ausführlich beschriebenen Höllenstrafen angedroht. Gleichzeitig erscheint der persönliche kämpferische Einsatz für die islamische Gemeinschaft als der einzig sichere Weg zum Paradies, das nach Aussagen einschlägiger islamischer Überlieferung vor allem für die Männer einen Ort der sinnlichen Freude darstellt.
Keine Alternative zur Loslösung vom politischen Erbe Muhammads
Um salafistischen Ideologien den ideologischen Nährboden zu entziehen, ist es nach Polanz unumgänglich, zentrale Aspekte der bis heute an den einflussreichen islamischen Institutionen vorherrschenden Theologie zu hinterfragen. Dazu zählt Polanz unter anderem den Anspruch des traditionellen Schariarechts, nicht nur das persönliche, sondern auch das gesamte politische und gesellschaftliche Leben zu durchdringen. Solange man sich nicht von diesem politischen Erbe Muhammads und der Unantastbarkeit seines Vorbilds löst, ist laut Polanz eine Gleichberechtigung von Frauen und Nicht-Muslimen ebenso ausgeschlossen wie umfassende Glaubens- und Meinungsfreiheit. Prophetische Aussprüche wie „Wer seine Religion wechselt, den tötet“ würden bis heute von einer Mehrheit muslimischer Gelehrter herangezogen, um Muslime, die sich sichtbar vom Islam abwenden oder „unanfechtbare“ Lehren und Bestimmungen des Islam kritisieren, mit dem Tod zu bedrohen. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem solche Positionen vertreten oder stillschweigend geduldet werden und in dem Zwang und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung religiöser Überzeugungen nicht kategorisch ausgeschlossen werden, werden glaubhafte Warnungen vor der Ideologie des Salafismus und Dschihadismus wenig wirksam sein, so Polanz.
Die gesamtgesellschaftliche Herausforderung erkennen
Gleichzeitig sollte sich laut Polanz die gesamte Gesellschaft genauer mit den Gründen und Prozessen der Radikalisierung junger Menschen in westlichen Gesellschaften auseinandersetzen. Muslimische Migranten der zweiten und dritten Generation sind häufig auf der Suche nach ihrer Identität, fühlen sich aufgrund tatsächlicher oder gefühlter Ablehnung weder in Deutschland noch in ihren Herkunftsländern zu Hause. Die Fülle westlicher Freiheiten scheint schwer mit der moralischen Orientierung vereinbar, die der traditionelle Islam gibt. Salafistische Organisationen gehen mit ihren jüngsten Einsätzen in Fußgängerzonen und auf deutschen Schulhöfen gezielt auf junge Migranten zu, bieten den Entwurzelten in ihrer eng verschworenen Gemeinschaft ein neues Zugehörigkeitsgefühl und malen ihnen den Einsatz für eine gerechte Sache und die Wiederherstellung ihrer Ehre als „Heilmittel“ ihrer manchmal durch Brüche gekennzeichneten Biographie vor Augen.
Polanz macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass die klaren Regeln und einfachen Feindbilder salafistischer Gruppen auch anziehend auf die zunehmende Zahl deutscher Konvertiten wirken. Diese sind häufig vom westlichen Materialismus enttäuscht und sehnen sich in einer zunehmend individualistischen und relativistischen Gesellschaft nach mehr Gemeinschaft und moralischer Eindeutigkeit. Um Warnsignale frühzeitig zu erkennen und Radikalisierung vorzubeugen, bevor dafür Anfällige im Teufelskreis von Rückzug und Ablehnung gefangen sind, ist es nach Polanz auch notwendig, die im Westen um sich greifende Sprachlosigkeit in Glaubens-, Werte- und Sinnfragen zu überwinden. Es gelte jungen Menschen zu zeigen, dass ein offener und respektvoller Umgang mit Andersdenkenden starke eigene religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen nicht ausschließen muss. Wenn muslimische Migranten jedoch den Eindruck gewönnen, dass nur Religionslosigkeit mit Demokratie und Freiheitsrechten kompatibel sei, würden diese schwerlich Akzeptanz finden.
Hintergrund: Der Anspruch der Salafisten
Salafisten beanspruchen für sich, den wahren, reinen und ursprünglichen Islam zu verkörpern. Die ersten Vordenker dieser Bewegung bedauerten im 19. Jahrhundert die Überlegenheit der westlichen Kolonialmächte in politischer, militärischer, wissenschaftlicher und technologischer Hinsicht und sahen die Schwäche der islamischen Welt in einer Abwendung vom „wahren Islam“ begründet. Sie wollten zurück zum „Goldenen Zeitalter“ der Muslime. Dazu sollten Muslime wieder konsequent die koranischen Werte und Rechtsnormen beachten und in möglichst allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen der Gewohnheit (sunna) Muhammads und seiner Gefährten folgen. Vor allem aber sollte das Schariarecht umfassend angewendet werden. Indem sich die islamische Gemeinschaft auf diese Weise von allen unislamischen – vor allem westlichen – Einflüssen reinigt, sollte sie zu alter Stärke zurückfinden und – kurz- oder langfristig – die globale Vorherrschaft erlangen.
War die frühe Bewegung noch vielfältiger und stärker auf die Reform von Kultur und Bildung konzentriert, propagierten die stark vom Salafismus inspirierten islamistischen Gruppen des 20. Jahrhunderts – allen voran die ägyptische Muslimbruderschaft – den Islam und die Aufrichtung der Scharia als Lösung aller politischen und gesellschaftlichen Probleme. Im Zuge der Re-Islamisierung in den 1970er Jahren etablierte sich in den einflussreichsten theologischen Institutionen eine salafistische Lesart des Islam. Vor allem Saudi-Arabien sponsert heute mit seinen Ölgeldern die weltweite Verbreitung salafistischer Ideologie. Zu den Feindbildern der Salafisten gehören heute nicht nur der Westen und Israel, sondern – wie gerade in Syrien und zahlreichen anderen Staaten zu beobachten ist – auch der Iran und die von ihm unterstützen schiitischen Gruppen, zu denen auch das alawitische Assad-Regime zählt.
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