Muslime und Weihnachten: Zwischen guter Nachbarschaft, kultureller Faszination und religiöser Abgrenzung
(Bonn, 22.12.2016) Soll ich meinen christlichen Nachbarn frohe Weihnachten wünschen? Können wir unseren Kindern Geschenke machen? Dürfen wir einen Weihnachtsbaum aufstellen? Muslime beantworten diese Fragen in der Praxis sehr unterschiedlich, erklärt der Islamwissenschaftler Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen. Wie weit wir im Neben- und Miteinander der Religionen von Normalität entfernt sind, erleben wir alle Jahre wieder zu Weihnachten. Dieses Jahr entzündeten sich Differenzen im deutsch-türkischen Gymnasium in Istanbul an Weihnachten. Der Islamische Staat hat die Verantwortung für den Anschlag in Berlin übernommen. Wenn das richtig sein sollte, wird das Ziel nicht zufällig ein Weihnachtsmarkt gewesen sein. Während manche hochrangigen Gelehrten gerade zur Weihnachtszeit die islamische Identität in Gefahr sehen, nutzen andere die Gelegenheit zur Stärkung der nachbarschaftlichen Beziehungen oder integrieren einzelne Weihnachtsbräuche ganz selbstverständlich in ihr eigenes Familienleben.
Saudische Gelehrte warnen vor Beihilfe zur Sünde und Nachahmung der Ungläubigen
Die beiden bekanntesten Hüter des wahhabitischen Staatsislam in Saudi-Arabien, Ibn Baaz (1910–1999) und Ibn al-Uthaimin (1925–2001), haben Muslime in ihren Rechtsgutachten wiederholt zur scharfen Abgrenzung von allen Weihnachtsfeierlichkeiten aufgerufen. Denn diese richten sich nach ihrer Überzeugung gegen Allahs Gesetz und werden nur von Allahs Feinden begangen. Freundliche Grüße an die Adresse von Christen verstehen sie als eine Beihilfe zur Sünde und eine Anerkennung des christlichen Glaubens an die Menschwerdung Gottes in Christus, den der Koran als schlimmste Sünde der Vielgötterei verurteilt. Einem Christen frohe Weihnachten zu wünschen, sei daher schlimmer als jemandem zu einem Mord oder Ehebruch zu gratulieren, und setze den Muslim dem Zorn Allahs aus. Ebenso verboten sind demnach eigene parallel stattfindende Feste, bei denen sich Muslime gegenseitig beschenken und Süßigkeiten verteilen. Die Gelehrten berufen sich auf einen bei Abu Dawud überlieferten Ausspruch Mohammeds:
„Wer ein (ungläubiges) Volk nachahmt, gehört zu ihnen.“
Vielerorts erhöhte Anschlagsgefahr und teilweise gesetzliche Verbote
Nicht nur in Saudi-Arabien kann sich der Eifer solcher Gelehrten und Prediger um den reinen islamischen Charakter ihrer Gesellschaft auch auf die konkrete Situation christlicher Minderheiten auswirken. Im letzten Jahr hat unter anderem die Regierung von Brunei öffentliche Weihnachtszeremonien zum Schutz der islamischen Lehre verboten und Geld- und Gefängnisstrafen bei Verstößen verhängt. Auch die Sicherheitslage ist für Christen in vielen mehrheitlich muslimischen Ländern in der Weihnachtszeit besonders prekär, weil sie dann am stärksten öffentlich wahrgenommen werden und die Kirchen am besten besucht sind.
Muslimische Weihnachtsgrüße im Sinne guter Nachbarschaft
Die von Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten über einzelne Moscheevereine und das Internet auch im Westen verbreitete antichristliche Polemik findet sich hierzulande vor allem in salafistischen Kreisen. Ganz anders argumentiert der Frankfurter Islamwissenschaftler Serdar Aslan. Christen zum Weihnachtsfest zu grüßen, gehört für ihn zu einem freund- und friedlichen Miteinander. Aslan empfiehlt Muslimen, die theologische Ebene nicht mit der sozialen zu verwechseln und Menschen nicht permanent „aus einer ‚theologischen‘ Brille“ zu betrachten. Ähnlich sieht das auch das Dar al-Ifta, das oberste ägyptische Gremium für Rechtsgutachten. Festtagsgrüße, Austausch von Geschenken und gegenseitige Besuche erscheinen den ägyptischen Gelehrten als legitime und geeignete Mittel, die nachbarschaftlichen Beziehungen zu stärken und durch gute Werke zum Islam einzuladen.
Muslimische Weihnachtsbräuche: Neujahrsgeschenke zu Heilig Abend
Mit ihrer scharfen Polemik bringen die strengen Gelehrten nach Polanz auch ihren Unmut darüber zum Ausdruck, dass viele Muslime (nicht nur im Westen) von manchen Bräuchen der Weihnachtszeit fasziniert sind und diese geradezu selbstverständlich ins eigene bi- kulturelle Leben integriert haben. Die deutsch-türkische Schriftstellerin und Journalistin Hatice Akyün beschreibt die eigene Erfahrung mit dem muslimischen Balanceakt zwischen kultureller Aneignung und religiöser Abgrenzung so:
„Meine muslimische Familie feiert Weihnachten mit Neujahrsgeschenken zu Heilig Abend, mit einer koscheren Weihnachtsgans vom türkischen Metzger, einem Weihnachtsbaum, der für die Nachbarskinder aufgestellt wird […] und mit Weihnachtsliedern, die meine Nichten, Neffen und meine Tochter meinem Vater vortragen, um zu zeigen, was sie im Kindergarten gelernt haben.“
Aiman Mazyek findet Diskussion um Umbenennung in „Lichterfest“ peinlich
Vorschläge, Weihnachtsmärkte aus Rücksicht auf die Gefühle der Muslime in Winter- oder Lichtermärkte umzubenennen, finden sogar muslimische Funktionäre wie Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD), peinlich. Die christliche Dimension ist für ihn eindeutig und unübersehbar. Mazyek wehrt sich dagegen, dass Muslime hier als „Argumentationsfolie“ und „Steigbügelhalter“ für eine ganz andere Diskussion herhalten müssen.
Für Polanz trägt die Unwissenheit über den Sinn und Ursprung von Weihnachten und die Gleichgültigkeit eines weitgehend entchristlichten Europas gegenüber christlichen Werten zur Sprachlosigkeit zwischen Christen und Muslimen bei. Was diesem inzwischen weitgehend säkular geprägten Europa oft als besonders tolerant vorkommt, erscheint vielen Muslimen eher als Ausdruck einer religiösen Orientierungslosigkeit und Bankrotterklärung des Christentums. Letztlich bleibt Carsten Polanz zufolge die entscheidende Frage, die Islam und Christentum wesentlich voneinander trennt: War Jesus lediglich ein großer Prophet und Vorläufer Mohammeds oder ist Gott selbst Mensch geworden?