Pressemitteilung zur aktuellen Verschleierungsdebatte

Institut für Islamfragen

Was sagen Koran und islamische Überlieferung zu Kopftuch und Burka?

(Bonn, 18.10.2016) Immer wieder gibt es Kontroversen um Kopftuch und Burka, auch innerhalb des Islams. In Deutschland beharren die großen islamischen Dachverbände wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) auf der Kopftuch-Pflicht für muslimische Frauen. Nach dem Islamwissenschaftler Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen der Evangelischen Allianz mangelt es den Kopftuch- und Burka-Debatten an einer sachlich- kritischen Auseinandersetzung mit der Vieldeutigkeit einschlägiger Bestimmungen des Korans sowie mit dem problematischen Männer- und Frauenbild der einflussreichen Traditionsliteratur.

Die relevanten Koranstellen und ihre Auslegung

Die Theologen und Rechtswissenschaftler beziehen sich vor allem auf drei Stellen:

Sure 24,30–31 befiehlt Frauen wie Männern, ihre Blicke zu senken und auf jede Zurschaustellung ihrer „Scham“ zu verzichten. Die Frauen sollen ihren „Schleier“ oder „Schal“ (chimār) über den Brustausschnitt ziehen. Darüber hinaus werden sie aufgefordert, ihren Schmuck niemandem außer ihren eigenen Männern und engen Verwandten zu zeigen. Die große Mehrheit der Rechtsgelehrten rechnet das Haar zum Schmuck der Frau. Die Forderung nach einem Gesichtsschleier oder einer Burka leiten die meisten von ihnen daraus nicht ab. Gegner einer zeitlosen Kopftuchpflicht gehen davon aus, dass der Islam an dieser Stelle das damals übliche Kopftuch als geeignetes Mittel zum Zweck lediglich voraussetzt. Nach Lamya Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund gibt es heute angemessenere Möglichkeiten, sich schamhaft zu kleiden und vor männlicher Belästigung zu schützen.

In Sure 33,53 geht es eigentlich ausschließlich um die Frauen Muhammads. Wenn andere Männer sie um etwas bitten, sollen sie mit ihnen nur hinter einem „Vorhang“ sprechen, damit die Herzen aller Beteiligten rein bleiben. Das hier mit „Vorhang“ übersetzte arabische Wort hijāb bezeichnete entgegen dem heute üblichen Gebrauch ursprünglich kein Kleidungsstück. Dennoch haben viele muslimische Ausleger und Rechtsgelehrte aus diesem Vers eine strikte Geschlechtertrennung und die Pflicht zum Tragen eines Schleiers abgeleitet. Vor allem in jüngerer Zeit weisen kritischere Stimmen auf die Möglichkeit hin, dass Muhammad als Herrscher eines wachsenden Reiches an dieser Stelle lediglich eine damals auch an den sassanidischen und byzantinischen Herrscherhöfen vorherrschende Sitte übernommen hat, nach der die Frauen des Herrschers hinter einem Vorhang vor Besuchern verborgen blieben.

Sure 33,59 spricht von einem (langen und weiten) Ausgangsgewand (jilbāb), das sich die Frauen (vermutlich beim nächtlichen Austreten außerhalb des Zeltes oder Hauses) über den Kopf ziehen sollen, um sich auf diese Weise deutlich von anderen (nicht ehrbaren) Frauen zu unterscheiden und nicht – wie damals offensichtlich üblich – von fremden Männern angesprochen und belästigt zu werden. Befürworter einer Vollverschleierung (mit Ausnahme der Augen) wie beispielsweise Ibn Taimiya (1263-1328) und in neuerer Zeit der bekannte saudische Scheich Ibn Baz (1910-1999) berufen sich in der Regel auf diesen Vers, während die Mehrheit der Gelehrten die generelle Pflicht zur Verschleierung von Gesicht und Händen als Übertreibung ablehnt. Jene, die auch eine Kopftuch-Pflicht ablehnen, argumentieren, dass es in diesem Vers lediglich um die damals übliche Unterscheidung zwischen freien Frauen und Sklavinnen geht.

Starke Reduzierung der Frau auf ihre Sexualität in der islamischen Überlieferung

Die traditionelle Auslegung und Anwendung der einschlägigen Koranverse in der Rechtswissenschaft hat sich von Anfang an sehr stark an den islamischen Überlieferungstexten orientiert. Aus diesen Hadithen, deren Authentizität aufgrund ihrer späten Entstehung rund 150–250 Jahre nach Muhammads Tod durchaus fraglich ist, leiten Muslime die für alle Muslime vorbildliche Sunna (Gewohnheit, Lebensweise, Norm) Muhammads (und seiner Gefährten) ab. Nach einem von Abū Dawūd überlieferten Ausspruch, hat es Muhammad als unpassend bezeichnet, wenn man von einer Frau nach der ersten Menstruation mehr als Gesicht und Hände sieht. Andere Hadithe sprechen lediglich davon, dass die Frau beim rituellen Gebet Haar und Nacken bedecken soll. Weitere tradierte Aussprüche reduzieren die Frau stark auf ihre Sexualität. Weil sie durch ihr öffentliches Erscheinen demnach eine „Versuchung“ (fitna) darstellt bzw. „Unruhe“ in der Gesellschaft auslöst, muss sie sich am besten in ihrem Haus oder hinter einem Schleier verbergen. Insofern tendiert die traditionelle Sicht dazu, den Mann als triebgesteuertes Wesen darzustellen, von dem – wenn überhaupt – nur wenig Verantwortung und Selbstbeherrschung beim Anblick einer unverschleierten Frau erwartet werden kann. Der Konflikt zwischen dieser bis heute dominanten Prägung islamischer Kulturen aus dem Arabien des 8. und 9. Jahrhunderts und der gegenwärtigen kulturellen Prägung im Westen wurde in Deutschland bis zu den Silvester-Exzessen 2015/2016 öffentlich ignoriert und verdrängt.

Laut Polanz wäre es eine wichtige Aufgabe der neugeschaffenen islamtheologischen Fakultäten, sich kritisch nicht nur mit der Entstehung, sondern auch mit den Inhalten einschlägiger islamischer Überlieferungen zu befassen – gerade dort, wo sie zu einer Entwürdigung und Entrechtung der Frau führen, weil darauf auch das Schariarecht basiert. Zugleich müsse die innerislamische Streitfrage gelöst werden, welche Rolle der historische Kontext einzelner Koranverse spielt und inwiefern Muslime heute noch an den genauen Wortlaut koranischer Bestimmungen und deren traditionelle Auslegung oder lediglich an allgemeine hinter den koranischen Bestimmungen stehende Prinzipien gebunden sind.