„Wir müssen uns mit den dunklen Seiten des Islams beschäftigen“

Judith Kubitscheck

Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi fordert eine Reform der islamischen Theologie (epd-Gespräch)

Freiburg/München (epd). Nach Ansicht des Freiburger Islamwissenschaftlers Abdel-Hakim Ourghi befindet sich der Islam in einer Sinnkrise. Nur ein europäischer, humanistischer Islam kann zur westlichen Welt gehören, sagte der Leiter des Fachbereichs Islamische Theologie an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg am Mittwoch dem Evangelischen Pressedienst (epd). Doch dafür braucht es eine neue, zeitgemäße Auslegung des Korans, so Ourghi.

epd: Herr Ourghi, pünktlich zum Reformationsjubiläum erscheint im Claudius-Verlag (München) Ihr Buch „Reform des Islam. 40 Thesen“. Sind Sie der islamische Martin Luther?

Ourghi: Nein, ich habe Respekt vor Luthers Werk als Reformer, allerdings sehen die historischen Kontexte völlig anders aus. Aber auch ich wünsche mir eine Reform, denn der Islam befindet sich in einer Sinnkrise. Es muss eine Alternative zu dem konservativen Islam und zu den konservativen Dachverbänden geben, die den Diskurs in Deutschland bestimmen.

epd: Wie könnte diese Alternative aussehen?

Ourghi: Wir brauchen einen europäischen Islam, der mit unseren westlichen und humanistischen Werten vereinbar ist, der die Vielfalt im Glauben respektiert und in der Lage ist, auch Andersgläubige zu respektieren. Außerdem sollte das Bild von einem barmherzigen, liebenden Gott vermittelt werden, der sehnsüchtig auf die Menschen wartet – nicht von einem strafenden Gott.

epd: In Ihrem Buch begehen Sie aus Sicht konservativer Muslime einen Tabubruch: Sie sprechen manchen Versen im Koran ihre ewige Gültigkeit ab.

Ourghi: Um den Islam zu reformieren, müssen wir die theologischen Quellen in den Blick nehmen. Der Koran kann in zwei Bereiche aufgeteilt werden, es gibt politisch-juristische Aussagen, die nur im Kontext des siebten Jahrhunderts zu verstehen sind und keine zeitlose Bedeutung haben, aber auch humanistisch-ethische Aussagen, die ewig gültig sind. Liest man den Koran so, kann man sich problemlos von menschenverachtenden Versen verabschieden.

epd: Als zweite Quelle des Islam gilt die Sunna, die Überlieferung von Aussprüchen aus dem Leben Mohammads. Stimmt es, dass Sie diese völlig ablehnen?

Ourghi: Die Sunna ist erst zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten entstanden und es kam zu Fälschungen. Zum Beispiel finden wir im Koran keinen Hinweis darauf, dass Muslime, die ihre Religion verlassen, hingerichtet werden müssen. Diese Aussage ist erfunden und nicht mehr zeitgemäß. Die Sunna widerspricht dem Kern des humanistischen, modernen Korans. Dass man gut ohne sie leben und glauben kann, haben übrigens auch schon die Mutaziliten gezeigt, eine rational ausgerichtete islamische Strömung, die vom achten bis zum 13. Jahrhundert existierte, sich aber leider nicht durchsetzen konnte.

epd: In Ihrem Buch sprechen Sie sich dafür aus, sich auch mit den „dunklen Seiten dies Islams“ zu beschäftigen, wie Gewalt im Namen der Religion und die Unterdrückung der Frau.

Ourghi: Ja, denn es stimmt nicht, dass islamistische Terroranschläge und Gewalt nichts mit dem Islam zu tun haben. Dies sieht man schon daran, dass die Islamisten eben in Moscheen beten und nicht in Kirchen oder Synagogen. Außerdem haben die Islamisten eine religiöse Sozialisation hinter sich und finden ihre Antworten auch in Moscheen, die sich moderat geben. Oft predigt der Importimam aus der Türkei oder der selbst ernannte arabische Imam vom Inhalt dasselbe wie Salafiste – nämlich einen Islam, der keine Kritik duldet und der Muslime von der „ungläubigen Umwelt“ fernhalten will. In solchen Moscheen findet eine Vorradikalisierung statt, auf die Islamisten aufbauen können.

epd: Eine der Thesen des Buches wendet sich an die muslimischen Frauen und fordert sie auf, „sich von ihren Peinigern“ zu befreien. Das Kopftuch sehen Sie als „ein historisches Produkt der männlichen Herrschaft“.

Ourghi: Ich möchte zeigen, dass das Kopftuch im Islam keiner religiösen Vorschrift unterliegt. Es gibt zwei Verse, die über die Bedeckung des Dekolletés sprechen, aber nicht zum Kopftuch-Tragen auffordern. Wenn eine Frau aus einer freien, persönlichen Entscheidung das Kopftuch trägt, ist das kein Problem, doch die Realität sieht oft anders aus: Viele Frauen tragen das Kopftuch, weil sie von ihren Männern, Familien oder Moscheeverbänden unter Druck gesetzt werden. Ich ermutige die muslimischen Frauen, die Freiheit für sich zu beanspruchen und zu leben. Sie allein müssen den Schritt gehen. Ihre Peiniger werden nicht dafür sorgen, dass sie frei werden.

Quelle: epd-Südwest Nachrichten Nr. 187 vom 28.09.2017 (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung)