Ein mit Mäßigung und Tradition verbundener Sufismus herrscht vor
(Institut für Islamfragen, dk, 19.02.2021) Dejan Aždajić beschreibt in seiner Dissertation die Rolle des Sufi-Scheichs unter Muslimen in Sarajewo, Bosnien-Herzegovina. In dem Zusammenhang erläutert er auch die Besonderheiten des gelebten Islam von Muslimen in Bosnien, d.h. einen sunnitischen Islam mit theologischer Prägung der Maturidi-Schule, die sich an der hanafitischen Rechtsschule ausrichtet. Der bosnische Islam sei stark vom Sufismus geprägt.
Der Naqshbandiya-Orden sei dominant. Aždajić empfindet den Begriff „bosnischer Islam“ als legitim, da es genügend Charakteristika gäbe, die einzigartig („unique“) seien, so dass sich der gelebte Islam in Bosnien vom Islam in anderen Ländern unterscheide. Das hänge auch damit zusammen, dass der Islam sich langsam ausgebreitet habe und schlussendlich zur vorherrschenden Religion wurde, nachdem die Osmanen das heutige Bosnien 1463 erobert hätten. Dadurch habe der Islam in Bosnien lange Zeit gehabt, um sich an die dortige Kultur anzupassen und tief in Geschichte und Kultur des Landes verwurzelt zu werden.
Bosnische Muslime sähen sich als echte Europäer, die in einem multireligiösen und heterogenen Kontext lebten. Die Geschichte dieser jahrhundertelangen Koexistenz mit Nichtmuslimen habe den Islam dort stark geprägt. Sie hätten auch weniger Probleme, den Islam mit einem säkularen Umfeld zu vereinen. Der bosnische Islam sei alles in allem in der Regel gemäßigt und tolerant.
Bosnien-Herzegovina sei ein demokratisches Land, in dem Religion und Staat getrennt seien. Dies werde von der Mehrheit der Muslime geschätzt, auch wenn der Islam eine wichtige Rolle im Leben der Bosnier spiele. In der Regel seien bosnische Muslime recht liberal im Blick auf die täglichen Gebete, den Genuss von Alkohol und vorehelichen Sex.
Allerdings gäbe es auch Bemühungen von türkischer und arabischer Seite, deren Sichtweise zu etablieren, aber lokale Gläubige lehnten fremden Druck auf ihre traditionelle Art, den Islam zu praktizieren, ab und hielten an Traditionen, auf die sie stolz seien, fest. Es gäbe auch synkretistische Adaptionen des Islam an vorislamische, einheimische Traditionen, z.B. Blumen auf Gräber zu legen, die gegenseitige Teilnahme an den Festen anderer religiöser Gemeinschaften, das Gebet um Regen oder die Pilgerreise nach Ajvatovica, einem Berg in Zentralbosnien.
Während des kommunistischen Regimes in Jugoslawien seien die Muslime 1961 als eigenständige, separate ethnische Gruppe in Jugoslawien anerkannt worden. Dies sei 1974 auch in der Verfassung verankert worden, so dass bosnische Muslime nicht nur als Religionsgemeinschaft betrachtet würden, sondern auch als Nationalität.
Quelle: Dejan Aždajić. The Shaping Shaikh: The Role of the Shaikh in Lived Islam among Sufis in Bosnia and Herzegovina. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2020, S. 9-25