Gibt es im Islam Religionsfreiheit für Andersgläubige (Nicht-Muslime)?

Dr. Carsten Polanz

Aktuelle wissenschaftliche Studien dokumentieren weitreichende staatliche Einschränkungen sowie massive Verletzungen der Religionsfreiheit von Christen, anderen Nicht-Muslimen und islamischen Minderheiten oder Sondergruppen durch militante Islamisten in den meisten Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit [Pewforum]. Das gilt sowohl für „religiös-repressive“ Regime wie Saudi-Arabien und den Iran als auch für „säkular-repressive“ Regime wie Syrien oder die Türkei, die die Religion ebenfalls zur eigenen Machtsicherung instrumentalisieren und streng kontrollieren (vgl. Philpott unten).

Der Koran selbst ist beim Thema Religionsfreiheit vieldeutig. Nach einigen Versen sollen Muslime die Menschen „mit Weisheit“ zum Islam einladen und „auf eine möglichst gute Art“ mit ihnen streiten (Sure 16,125). Zudem gibt es „keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2,256). Muslime sollen vielmehr friedfertigen Nicht-Muslimen friedfertig begegnen (Sure 4,90 und 8,61). Dass nicht alle Menschen gläubig sind, erscheint in Sure 10,99 gottgewollt. Gleichzeitig rufen spätere „Schwertverse“ aus Muhammads Zeit als politischer Führer in Medina zur Tötung von Polytheisten (v.a. Sure 9,5) und Unterwerfung von Juden und Christen (Sure 9,29) und überlieferte Aussprüche Muhammads zur Todesstrafe für Abtrünnige auf. Die Mehrheit der frühen Gelehrten ging davon aus, dass die späteren kämpferischen die früheren friedfertigeren Verse aufgehoben (abrogiert) haben.

Juden und Christen werden im Koran als „Leute des Buches“ (ahl al-kitab) bezeichnet und wurden daher im Rahmen der frühislamischen Eroberungen nicht zur Annahme des Islam gezwungen. Als „Schutzbefohlene“ (dhimmis) mussten sie sich aber der islamischen Vorherrschaft unterwerfen. Der Schutzvertrag garantierte ihnen einerseits für damalige Verhältnisse durchaus weitreichende Rechte wie den Schutz von Leben und Eigentum und eine relativ große Religions- und Kultfreiheit sowie Verwaltungs- und Rechtssprechungsautonomie, verpflichtete sie andererseits unter anderem zu einer besonderen Kopfsteuer, Rücksicht auf Scharia-Bestimmungen und muslimische Gefühle im öffentlichen Raum und den Verzicht auf missionarische Aktivitäten und höhere Führungspositionen.

Dieses Dhimmi-System wird oft als politische Manifestation des religiösen Überlegenheitsanspruchs und der damit verbundenen Abwertung des Juden- und Christentums zu bloßen Vorläuferreligionen mit angeblich im Laufe der Zeit verfälschten Offenbarungen verstanden. Im Rahmen weitreichender Eroberungen christlicher Kerngebiete gab es zwar in der Regel keinen direkten gewaltsamen Bekehrungszwang, aber einen vielfältigen indirekten Bekehrungsdruck durch regional unterschiedlich stark ausgeprägte Formen struktureller und wirtschaftlicher Benachteiligungen sowie alltäglich spürbarer Demütigungen.

Im Kontext von Reformdiskursen gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts verschiedene Versuche seitens modernistischer und (nationalistisch-)säkularer Denker sowie einer großen indonesischen Vereinigung (Nahdlatul Ulama), das klassische Dhimmi-Denken zu relativieren oder vollständig zu überwinden, zugleich aber auch lautstarke Propaganda islamistischer und dschihadistischer Gruppen für eine Wiederherstellung „urislamischer“ Zustände. Diese verweisen häufig auf Verfassungsartikel, die den Islam als „Staatsreligion“ und die Scharia als (Haupt-)Quelle der Gesetzgebung bezeichnen, und lehnen freiheitlich-demokratische Konzepte einer Staatsbürgerschaft mit umfassender Gleichberechtigung von Nichtmuslimen ebenso vehement ab wie die Freiheit, den Islam zu verlassen.

Weiterführende Literatur:

  • Albrecht Hauser, Wirklich kein Zwang im Glauben? Religionsfreiheit und Menschenrechte aus islamischer Sicht – eine theologische Betrachtungsweise, IfI-Sonderdruck Nr. 7, abrufbar unter  Wirklich kein Zwang im Glauben? (islaminstitut.de)
  • Daniel Philpott, Daniel, Religious Freedom in Islam. The Fate of a Universal Human Right in the Muslim World Today, New York: Oxford University Press, 2019
  • Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 2008