Trennt oder eint Abraham Christen und Muslime?

Dr. Carsten Polanz

Nachdem der interreligiöse Dialog zwischen Christen und Muslimen beim zentralen Thema Jesus ins Stocken geraten war, kam u.a. unter dem Einfluss des französischen Orientalisten Louis Massignon (1883–1962) und der Erklärung „Nostra Aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils die Hoffnung auf, in Abraham [im Koran Ibrahim] den gemeinsamen Glaubensvater zu finden, mit dem man (mehr) Frieden und Einheit zwischen den monotheistischen Religionen stiften könnte.

Auch der im Libanon geborene Theologe und Politikwissenschaftler Hanna Josua hat aufgrund seiner persönlichen Bürgerkriegserfahrungen eine große Sehnsucht nach einer friedlichen Koexistenz von Christen und Muslimen. Er hinterfragt jedoch in seiner umfangreichen wissenschaftlichen Studie „Ibrahim, der Gottesfreund“ von 2016 die verbreitete Annahme, dass die „Abrahamische Ökumene“ der passende Schlüssel für einen solchen Frieden ist. Demnach unterschätzen vor allem westliche Theologen und Dialogvertreter den Einfluss, den die traditionell geprägten Diskurse der islamischen Länder auch auf große Teile der muslimischen Gemeinschaft im Westen ausüben. Josua hat dazu die islamischen Primärtexte sowie einschlägige Geschichts- und Kommentarwerke untersucht. Er legt überzeugend dar, dass die wie „Splitter“ im Koran verstreuten Ibrahimtexte keine „Prophetenbiographie“ darstellen wollen, wie sie einige westliche Forscher (u.a. Karl-Josef Kuschel) aus dem Koran abzuleiten versuchen, sondern mit konkreten Ereignissen in der Prophetenbiographie (Sīra) Muḥammads korrespondieren.

Aufgrund der sich zuspitzenden Konflikte mit Juden und Christen kam es im dynamischen Prozess von Muhammads Verkündigung schließlich zu einer „Islamisierung Ibrahims“: als Stifter sämtlicher islamischer Pflichten und Riten soll er bereits das Kommen Muhammads angekündigt haben. Abraham erscheint als eine Art Ur-Muslim, als Kronzeuge für den „reinen“, islamisch definierten Monotheismus (Sure 3,67). So geht der militärischen Konfrontation mit den Juden von Medina (der Vertreibung und Vernichtung einzelner Stämme) eine theologische Enteignung voraus, die in der Legende von der Erbauung der vorislamischen Kaʿba durch Ibrahim und Ismail und der Verlegung der „Gebetsrichtung Ibrahims“ von Jerusalem nach Mekka gipfelt. Der koranische Begriff der „Religion Abrahams“ (millat Ibrāhīm) steht damit wie kein anderer für den islamischen Überbietungsanspruch gegenüber Juden und Christen, die Muhammad in ihrer großen Mehrzahl nicht als Propheten anerkannt haben. Christen dagegen können nach Josua nur über Christus und das in ihm vollendete Heilsgeschehen Gottes auf Abraham zurückblicken: „Ehe Abraham ward, bin ich“ (Joh 8,58). Abrahams Vaterschaft im Glauben ist bei Paulus gerade in seiner Rechtfertigung durch den Glauben begründet (siehe Röm 4 u. Gal 3).

Solche tiefgreifenden Unterschiede im Selbstverständnis ehrlicher wahrzunehmen, Trennendes anzuerkennen und auszuhalten, ist für Josua kein Hindernis, sondern vielmehr Voraussetzung für einen fruchtbaren Dialog. Überzeugend plädiert er für eine alternative Begründung des friedlichen und respektvollen Miteinanders in religiöser Verschiedenheit: die unantastbare Würde jedes Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes.

Weiterführende Literatur:

  • Hanna Josua, Ibrahim, der Gottesfreund: Idee und Problem einer Abrahamischen Ökumene, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016
  • Hanna Josua, Innovative Koranhermeneutik als Schlüssel zur Begegnung mit dem Islam, Islam und christlicher Glaube / Islam and Christianity 2/2018, 5–12, abrufbar unter https://www.islaminstitut.de/wp-content/uploads/2020/02/IFI-Journal2018_2.pdf 
  • Friedmann Eißler, „Abraham im Islam“, in: Abraham in Judentum, Christentum und Islam, Hrsg. Ders. u.a., Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 116–188
  • Catherina Wenzel, Abraham-Ibrahim im Koran. Von der Macht der Aneignung und über die Aneignung der Macht, in: Religious Apologetics und Philosophical Argumentation, Hrsg. J. Schwartz and V. Krech, Tübingen: Mohr und Siebeck, 2004, 363–-385