Wird der Abfall vom Glauben im Islam mit dem Tod bestraft?

Dr. Carsten Polanz

Christine Schirrmacher weist auf die Vielfalt von Positionen im Blick auf die Freiheit zum Religionswechsel und den Umgang mit dem Abfall vom Islam hin. An einem Ende der Skala ist das uneingeschränkte Ja zur Todesstrafe, wie es der einflussreiche pakistanische Gelehrte Abu l-A‘la Maududi (1903–1979) vertreten hat. Am anderen Ende der Skala steht das uneingeschränkte Ja zur Religionsfreiheit einschließlich der Freiheit zum Religionswechsel, wie es u.a. der australisch-maledivische Islamwissenschaftler Abdullah Saeed vertritt. Er bezieht sich auf die im Westen viel zitierte (traditionell enger interpretierte) Sure 2,256, nach der es keinen Zwang in der Religion gibt. Zudem verweist er auf die stark veränderte sozio-politische Ausgangslage. Demnach ging es im frühislamischen Kampf gegen abtrünnige Stämme um das Überleben der muslimischen Gemeinschaft.

Am weitesten verbreitet ist heute die vermittelnde Position der sog. Wasatiyya-Strömung (vom arabischen wasat = Mitte). Vertreter dieses Ansatzes wie der ägyptische Rechtsgelehrte Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926) warnen eindringlich vor der jenseitigen Strafe für alle Abgefallenen. Gleichzeitig dulden sie den inneren oder gedanklichen Abfall im Diesseits. Allerdings nur solange der Betreffende seinen Unglauben bzw. seine Zweifel nicht offen bekennt und andere dadurch verunsichert. Im letzteren Fall setzen sie den Glaubensabfall mit einem Verrat an der Gemeinschaft der Muslime und dem religiös-moralischen Fundament von Staat und Gesellschaft gleich. Damit sich die individuelle Apostasie nicht zu einer kollektiven entwickelt, müsse der Staat dem traditionellen Konsens der Rechtsschulen folgen und die Todesstrafe verhängen. Letztere begründen sie nicht mit Koranversen, sondern überlieferten Aussprüche Muhammads (v.a. „Wer seine Religion wechselt, den tötet.“ – an-Nasaʾi, Vol. 5, Buch 37, Hadith Nr. 94).

Auch diese Vermittlungsposition stellt für den freiheitlich-demokratischen Staat eine große Herausforderung dar. Ihre Vertreter präsentieren sich nämlich gerne in öffentlichkeitswirksamen Auftritten als Freunde und Verteidiger der Religionsfreiheit. Auch sie zitieren gerne die oben genannte Sure 2,256, beklagen – vor allem dort, wo sie selbst Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt sind – staatliche Zensur und Repressionen und fordern Freiheit, ideologische Strömungen, gesellschaftliche Missstände und aktuelles Regierungshandeln zu kritisieren. Gleichzeitig tragen sie selbst zu einer Atmosphäre der Unfreiheit und Einschüchterung bei, wenn sie Menschenrechte wie die Glaubens- und Meinungsfreiheit unter einen Schariavorbehalt stellen und die Religionskritik und den Religionswechsel kriminalisieren. Militanten Muslimen, die die angeblichen Verräter in Selbstjustiz richten, verschaffen sie damit zumindest eine indirekte Rechtfertigung. Das Ausmaß des Problems wird in einer Studie des Pew Research Centers von 2013 deutlich, nach der 80 % der afghanischen Muslime, 74 % der palästinensischen 62 % der ägyptischen Muslime, 61 % der jordanischen und die Todesstrafe für Apostasie befürworten.
Im politischen und interreligiösen Dialog braucht es daher Mut, sachlich-kritische Rückfragen zum inhaltlichen Kern viel beschworener Begriffe zu stellen. Muslime, die sich mit Leidenschaft und Überzeugung für umfassende Religionsfreiheit aller Menschen einsetzen, werden ein solches Nachhaken nicht als Ausdruck islamophober oder muslimfeindlicher Gesinnung (miss)verstehen, sondern für die Klarheit und Transparenz in der gesellschaftlichen Debatte von Herzen dankbar sein. Der Religionswechsel ist die „Nagelprobe“ (Heiner Bielefeldt) für das Recht der Religionsfreiheit. Nur wenn Menschen Zweifel offen kommunizieren, sich aktiv mit anderen Weltanschauungen auseinandersetzen und am Ende auch den Glauben wechseln können, kann der Verbleib in einer Religion als Ausdruck persönlicher Freiheit verstanden werden. Dies ist leider keine Selbstverständlichkeit; sie gilt es heute gerade dort entschlossen zu verteidigen, wo Religionsfreiheit nur als Einbahnstraße für Gleichgesinnte interpretiert wird.

Siehe dazu auch Religionsfreiheit – ein Menschenrecht

Weiterführende Literatur

  • Anderson,. Matthew / Karen Taliaferro (Hg.), Islam and Religious Freedom. A Sourcebook of Scriptural, Theological, and Legal Texts, Georgetown/Washington 2014
  • Schirrmacher, Christine, „Es ist kein Zwang in der Religion“ (Sure 2,256): Der Abfall vom Islam im Urteil zeitgenössischer islamischer Theologen. Diskurse zu Apostasie, Religionsfreiheit und Menschenrechten, Würzburg 2015