Wie Muslime Christen sehen

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Das Bild der Christen in Koran und Überlieferung (hadith)

Muslime wie teilweise auch Nichtmuslime beklagen nicht selten, Christen – oder auch die westliche Ge­sellschaft – pflegten und verbreiteten ein „Feindbild Islam“. Insbesondere aus christlicher Sicht werde der Islam vorverurteilt und an den Dialog voreingenommen herangetreten.

Natürlich kann die Bibel, da der Islam erst im 7. Jahrhundert n. Chr. von Muhammad ver­kündigt wurde, selbst kein explizites Urteil über den Islam enthalten. Christen beurteilen den Islam damit gewissermaßen immer nur in Ableitung ihres Schriftverständnisses, was zu einer erheblichen Bandbreite an Auffassungen und Positionen zum Thema innerhalb und außerhalb der Kirchen führt.

Wenn Christen allerdings vorgeworfen wird, daß sie mit zu geringer Offenheit an die inter­religiöse Begegnung mit Muslimen herangingen und gar nicht erwarteten, im Islam eben­falls ein Stück göttlicher Offenbarung und Wahrheit zu fin­den, so bleibt dabei oftmals un­berücksichtigt, daß diese Art von ‚Dialogansatz‘ für über­zeugte Muslime ihrerseits undenk­bar wäre:

Im Gegensatz zum Christen, der erst seine Standortbestimmung zum Islam finden muß, ist das muslimische Bild des Christentums und des christlichen Glaubens meist bereits relativ fest­gelegt: Festgelegt vor allem durch die Aussagen des Korans, der als nachchristliche Offenba­rungsschrift etliche Aussagen über die Christen und den christlichen Glauben macht, die später von der umfangreichen islamischen Überlieferung (dem hadith) im Großen und Ganzen unterstrichen und bestätigt werden. Da es im Islam keine „islamische Aufklärung“ im europäischen Sinne gegeben hat und keine offizielle historisch-kritische Koranexegese und -analyse existiert, ist der Spielraum für die Auslegung und Interpreta­tion dieser als normativ verstandenen Texte entsprechend gering.

Christen im Urteil des Korans

Der Koran vermittelt ein mehrschichtiges Bild von den Christen und dem christlichen Glauben:

Es ist bekannt, daß Muhammad im 7. Jahrhundert n. Chr. auf der Arabischen Halbinsel und auf seinen Handelsreisen nach Syrien (und eventuell weiteren angrenzenden Ländern) Kennt­nisse des Christentums erworben haben muß, vermutlich jedoch keiner neutesta­mentlichen Ge­meinde, sondern Christen als Einzelpersonen – Einsiedlern, Mönchen – be­gegnete. Da zu Muhammads Lebzeiten nach aller Quellenkenntnis keine vollständige arabi­sche Bibelübersetzung existierte und der christliche Glaube auf der Arabischen Halbinsel vor allem in der Kirchensprache Syrisch praktiziert wurde, muß – soweit die spärlichen Quellen diesen Schluß zulassen – eine gewisse dogmatische Unausgewogenheit im christlichen Bereich vorgeherrscht haben, da z. B. zumin­dest einige, monophysitische christliche Kirchen in Syrien und Abessinien Maria als „Mutter Gottes“ verehrten oder ein nestorianisches Christentum bzw. einen monophysitischen Glauben praktizierten1.

Die Frömmigkeit der Christen

Muhammad erhoffte sich von den Christen zu Beginn seiner Verkündigungen ebenso wie von den Juden, die er – beide höhergeordnet als die ‚Heiden‘ – grundsätzlich als „Schrift“- oder „Buchbesitzer“ (arab. ahl al-kitab) anerkannt hatte, die Akzeptanz seiner Person als Prophet, der mit ei­ner Botschaft Gottes zu den Arabern gesandt war. Muhammads Zuge­ständnisse erschöpf­ten sich jedoch nicht in der Anerkennung der Juden und Christen als Schriftbesitzer, er übernahm auch zunächst die jüdische Fastenform oder die jüdische Ge­betsrichtung Jerusalem, Bestimmungen, die er mit späteren Offenba­rungen aufhob.

Zudem lobt Muhammad zunächst die Frömmigkeit der Chri­sten, ihre Liebe, ihre Demut, ihren Glauben; so vielleicht am deutlichsten in Sure 5,82:

„Und du wirst sicher finden, daß diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind, welche sagen: ,Wir sind Nasara (d. h. Christen)‘. Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester und Mönche gibt, und weil sie nicht hoch­mütig sind“ (5,82).

Wohl zu dieser Zeit spricht der Koran davon, daß die Christen Gotteserkenntnis haben, an Gott und den Jüngsten Tag glauben und daher keine Sorge vor dem Jüngsten Gericht zu ha­ben brauchen (2,62). Auch Sure 3,110 bestätigt: „Es gibt Gläubige unter ihnen“, auch wenn diese Stelle bereits einschränkt: „Aber die meisten von ihnen sind Frevler“ und den Mus­limen eindeutig eine Höherordnung über allen anderen Gruppierungen einräumt:

„Ihr [gemeint ist: ihr Gläubigen] seid die beste Gemeinschaft, die unter den Menschen entstanden ist. Ihr gebietet, was recht ist, verbietet, was verwerflich ist und glaubt an Gott“ (3,110).

Gerade diese Aussage über die „beste Gemeinschaft“ (arab. kuntum haira ummatin), die der Muslime, ist für das Selbstverständnis überzeugter Muslime auch heute im Verhältnis zu Nichtmuslimen durchaus von Bedeutung.

Weiter berichtet der Koran davon, daß die Christen Muhammad zum Übertritt zu ihrer Re­ligion aufforderten (2,135), einer Aufforderung, der Muhammad begegnete, indem er die Christen seinerseits aufforderte, ihm gewissermaßen als ‚Ausleger‘ ihrer Schrift Gefolg­schaft zu lei­sten (5,15), was die Christen (ebenso wie die Juden) ablehnten (2,111).

Die Ablehnung Muhammads durch die Christen

Je ‚festgefahrener‘ das muslimisch-christliche Verhältnis in den Jahren der fortgesetzten Wir­kungszeit Muhammads in Medina in den Jahren von 622 n. Chr. an war – durch die beidersei­tige Ablehnung der theologischen Position des anderen – desto deutlicher erhob Mu­hammad Vorwürfe gegen die Christen, während er gleichzeitig die drei großen jüdi­schen Stämme auf politisch-militärischem Weg aktiv mit ihrer Vertreibung und Ausrottung bekämpfte: Da Muhammad davon überzeugt war, eigentlich keine neue Offenbarung zu bringen, sondern nur eine Botschaft unverfälscht erneut zu verkündigen, die von allen Pro­pheten von Adam an immer wieder gepredigt worden war, mußte die falsche Auslegung der Schrift auf Seiten der Christen liegen: Sie hatten Muhammads Sendungsanspruch ab­gelehnt, und ihre Botschaft wich von der seinen ab. Muhammad griff daher diejenigen christlichen Überzeugungen als Verfälschung der ursprünglichen Botschaft an, die im Wi­derspruch zu seinen Offenba­rungen standen:

Einer der Hauptvorwürfe an die Christen bezog sich auf die Dreieinigkeit Gottes (2,116; 5,73), die allerdings von Muhammad als Dreieinigkeit von Vater, Jesus Christus, dem Sohn und Maria, der „Mutter Gottes“, aufgefaßt wurde. Christen bege­hen mit dieser ‚Dreigötterverehrung‘ die größte, unvergebbare Sünde (arab. „shirk“ = Beigesellung). Sie irren sich hinsichtlich ihrer Auffassung von der Gottessohnschaft Jesu (5,72; 9,30), denn Jesus ist nach Auffassung des Korans nur ein Mensch, ein Prophet und Gesandter Gottes zu Israel. Und die Christen irren hinsichtlich ihres Glaubens an die Kreuzigung Jesu (4,157-158), und damit implizit hinsichtlich ihrer Auffassung vom Sündenfall.

Wohl in dieser Zeit zunehmender Entfremdung von den Christen verkündete Muhammad den – heute von islamistischen Gruppierungen nicht selten zitierten – Koranvers, der sie of­fen als „Frevler“ be­zeichnet und die Muslime davor warnt, sich nicht die Christen zu Freunden zu nehmen:

„Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht die Juden und Christen zu Freunden. Sie sind untereinander Freunde [ergänze sinngemäß: aber nicht mit euch]. Wenn ei­ner von sich ihnen anschließt, gehört er zu ihnen [ergänze: und nicht mehr zur Gemeinschaft der Gläubigen]. Gott leitet das Volk der Frevler nicht recht“ (5,51).

Christen als Ungläubige?

Außerdem urteilt der Koran in dieser Zeit der vermehrten Distanzierung über die Christen, daß sie auf ihren (irrigen) theologischen Ansichten beharren und „verschroben“ sind (5,75). Sie „verdunkeln die Wahrheit mit Lug und Trug“ (3,71) und darum „bekämpfe Gott sie!“, denn sie halten an der Gottessohnschaft fest (9,30).

Auch Aufforderungen, die „Ungläubigen“ zu „töten“, enthält der Koran an etlichen Stellen (z. B. 2,191; 4,89); ebenso die Aussage, daß die Ungläubigen „Insassen der Hölle“ seien (98,6). Wer allerdings unter den „Ungläubigen“ zu verstehen ist, ob Christen als „Schriftbesitzer“ überhaupt als Ungläubige aufzufassen sind oder nicht, ob sich dieser Vers – gewissermaßen zeitbedingt – auf Ungläubige zu Muhammads Zeiten bezieht oder damit heute diejenigen gemeint sind, an die der Ruf des Islam ergangen ist, die ihn jedoch abge­lehnt haben, darüber gibt es weder im Koran noch in der islamischen Theologie eine klare, einheitliche Auffassung. Gerade die Dehnbarkeit und Vielschichtigkeit der koranischen Anweisungen im Umgang mit Andersgläubigen macht ihre Interpretation und die daraus zu ziehenden Folgerungen für die heutige Anwendung so abhängig von Voraussetzungen, die nicht im Text selbst zu finden sind, sondern vielmehr in der persönlichen Haltung des Betrachters.

Unter Berücksichtigung der koranischen Grundaussagen, die ein ambivalentes Bild der Christen und ihres christlichen Glaubens zeichnen, ist davon auszugehen, daß sich auch Vertreter der muslimischen Theologie in ihren Äußerungen in diesem Rahmen bewegen. Dies ist der Fall, wobei beim Studium muslimisch-apologetischer Werke über das Christentum deutlich wird, daß die späteren Aussagen des Korans, die sich überwiegend negativ über die Christen und ihren Glauben äußern, als normativ betrachtet werden und die positiv-anerkennenden Aussagen aus der Frühzeit Muhammads eher in den Hintergrund treten. Zwar ist eine gewisse Anerkennung überzeugter Christen und ihrer Wertvorstellungen besonders im Vergleich mit der säkularisierten westlichen Welt noch immer Grundkonsens der islamischen Theologie und einzelner Muslime, aber weitaus größeren Stellenwert hat die Verurteilung der Christen als Irrende, die durch ihr Bekenntnis zur Dreieinigkeit das wichtigste islamische Dogma des „tauhid“ (die Einheit Gottes) verletzt haben und zudem schuldig sind, Muhammad nicht als letzten Gesandten Gottes anerkannt zu haben.

Die Überlegenheit des Islam über die Christen bzw. den Westen

Das Christentum ist aus muslimischer Sicht eine Abzweigung vom islamischen Glauben, der Urreligion der Menschheit, die seit Adam bestand und am Ende der Zeiten als einzige Religion bestehen wird. Christen sind theologischen Irrtümern verfallen, die verhindern, daß sie im Gericht Gnade vor Gott finden werden. Der Koran sagt an mehreren Stellen, daß Christen, die „ungläubig“ sind, in die Hölle eingehen werden:

„Diejenigen, die ungläubig sind unter den Leuten der Schrift und den Heiden, werden im Feuer der Hölle sein und darin weilen. Sie sind die schlechtesten [oder: bösesten, boshaftesten] Geschöpfe“ (98,6).

Es ist davon auszugehen, daß Muhammad mit den „ungläubigen“ Christen diejenigen meinte, die ihn und seine Sendung nicht anerkannten.

Aber nicht nur in theologischer Hinsicht irren Christen, sondern die gegenwärtige westliche Welt beweist durch ihre negativen gesellschaften Erscheinungen (Alkoholismus, Prostitution, Homosexualität, Altenheime, Drogen, Verschwendung), daß sie sich in einer Krise befindet und daß der Islam die bessere Alternative ist. Der Koranvers „Ihr seid die beste Gemeinschaft. Ihr gebietet, was recht ist und verbietet, was verwerflich ist“ (3,110) ist nicht nur eine theoretische Aussage, sondern gewinnt in muslimischen theologischen Schriften zur Beurteilung des Westens konkrete Gestalt. Muslimische Apologeten begründen mit den „Krisen des Westens“, daß der Islam von alters her und auch heute die Antwort ist, die der Westen im Christentum nicht finden kann, weil es vom Grundansatz her falsch ist. Daher liegt die Antwort für den Westen in einer Hinwendung zum Islam, wenn er genesen und Stabilität erlangen will.
Aussagen muslimischer Theologen über das Chrsistentum

Beschäftigt man sich mit Aussagen muslimischer Theologen über das Christentum, findet man viele negativ-abwertende, aber nur wenige positive Aussagen. Autoren der Moderne beziehen sich auf mittelalterliche muslimische Apologeten.

1. Muhammad Rashid Rida (1865-1935)

Muhammad Rashid Rida gehört zu den einflußreichsen muslimischen Theologen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Als Schüler Muhammad ´Abd hs, eines ägyptischen ‚Reformtheologen’ war er ein entschiedener Gegner des Christentums. Er war Mufti (Ersteller von Rechtsgutachten) und verfaßte aus den Auslegungen Muhammad `Abduhs nach dessen Tod den berühmten Korankommentar „al-Manar“ in einer säkularen Gesellschaft.1

Rashid Rida nahm u. a. dezidiert Stellung zum Christentum und der Frage der Zuverlässigkeit des Alten und Neuen Testamentes, die er für eine Mischung aus Mythos, Legende und Geschichte hält, die mit der Botschaft Gottes vermischt sind.2

Rashid Rida stützt sich, wenn er zum Christentum und zur ursprünglichen christlichen Offenbarung Stellung bezieht, nach dem Vorbild der muslimischen Apologeten des 19. Jahrhunderts stark auf die historisch-kritische Bibelexegese, um die christliche Offenbarung mit Hilfe der Aussagen der christlichen Theologen ad absurdum zu führen. Rida setzte sich dafür mit den Schriften und Werken europäischer Theologen, Philosophen und Literaten intensiv auseinander.

2. Muhammad Muhammad Abu Zahra (1898-1974)

Muhammad Muhammad Abu Zahra, ehemals Professor für Religionswissenschaft der al-Azhar und Lehrstuhlinhaber der Juristischen Fakultät der Universität Kairo nahm als eine der einflußreichsten Persönlichkeiten der muslimischen Gelehrtenwelt des 20. Jahrhunderts auch Stellung gegen die Glaubwürdigkeit der christlichen Schriften.

Erstmals 1942 hielt Abu Zahra in Kairo seine ‚Vorlesungen über das Christentum’, die später in mehreren Auflagen veröffentlicht wurden und für die Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum bis heute eine wichtige Rolle spielen. Auch Abu Zahra ist wie Rashi Rida ein entschiedener Gegner des Christentums.

Abu Zahra greift auf die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode aus der theologischen und philosophischen Literatur Europas zurück, wenn er unterschiedliche Auffassungen über die Abfassungszeit und die Frage der Inspiration der vier Evangelien als Argumente gegen die Glaubwürdigkeit des Christentums anführt.

Abu Zahras ‚Vorlesungen’ konzentrieren sich zunächst auf eine ideale Darstellung des Christentums, das sich einstmals in völliger Übereinstimmung mit dem Islam befunden habe und so auch von Jesus Christus gelehrt worden sei. Dieses Christentum sei in den christlichen Schriften aufgrund deren Verfälschung, durch die heidnische Inhalte in christliche Dogmen eingeführt wurden,3 jedoch nicht mehr enthalten und müsse daher im Koran gesucht werden. Für ihn ist die Dreieinigkeit keine ursprüngliche christliche Lehre, sondern erst nach der Etablierung der philosophischen Schule von Alexandria ins Christentum eingeführt4 und die Christenheit über diese Frage gespalten worden.

Abu Zahra übt jedoch nicht nur Kritik am historischen, sondern auch gegenwärtigen Christentum. Als die dritte Auflage von Abu Zahras Vorlesungen 1966 in Druck ging, betonte er, daß seine Schrift kein Angriff auf den christlichen Glauben sei, sondern lediglich die Darstellung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse.5 Hier wird deutlich, daß aus muslimischer Sicht das muslimische Urteil über die Verfälschung der christlichen Schriften ‚wissenschaftliche Forschung’ ist, ohne im Blick zu haben, daß andere Blickwinkel und Denkvoraussetzungen andere Ergebnisse zutage fördern würden. Aus islamischer Sicht gibt es in der Beurteilung des Islams und der Religionen keine Neutralität. Wer dem Islam angehört, beurteilt das Christentum aus islamischem Blickwinkel. Da Abu Zahra keine Fremdsprache außer dem Arabischen beherrschte und zudem als islamischer Theologe nicht leicht Zugang zu europäischen, wissenschaftlichen Werken über den christlichen Glauben erhalten haben dürfte, beruht Abu Zahras Urteil über den christlichen Glauben ausschließlich auf arabischen apologetischen Schriften, die das Christentum aus muslimischem Blickwinkel, nicht aber nach seinem Selbstverständnis darstellen.6 Diese Problematik ist repräsentativ für die islamische Apologetik.

3. Ahmad Shalabi (geb. ca. 1921)

Der ägyptische Religionswissenschaftler und promovierte Historiker der Universität Cambridge Ahmad Shalabi (geb. zwischen 1921 und 1924) hat sich in einer religionswissenschaftlichen Studie mit dem Titel ‚Vergleich der Religionen’ (arab. muqaranat al-adyan) aus dem Jahr 1959 ausführlich über das Christentum geäußert. Er behandelt Themen wie Dreieinigkeit, Kreuzigung und Erlösung.

Für Shalabi ist das Christentum eine Mischung aus den persönlichen Anschauungen des Apostels Paulus und aus heidnischen Elementen, die erst von Paulus in das Christentum eingeführt wurden.7 Letztlich ist für Shalabi das Christentum nur ein Konglomerat aus Legenden und Mythen und hat von seinem Wahrheitswert her keinerlei Bedeutung. Damit verschärft er die koranischen Aussagen über das Christentum erheblich.

Etliche Berichte aus den vier Evangelien wie die Geburt, die Versuchung und Auferstehung Jesu sind für Shalabi nach buddhistischen Legenden und Erzählungen heidnischer Gott­heiten Indiens und des Nahen Ostens entworfen worden.8

Die Hauptargumente muslimischer Apologetik gegen den christlichen Glauben9

  • die biblische Offenbarung ist im Laufe der Geschichte verfälscht worden;
  • die biblischen Propheten weisen auf Muhammad hin – er muß also auch für Christen der Gesandte Gottes sein;
  • das Ziel des Christentums/des Westens ist die Unterminierung des Islams;

– sind mit wenigen Veränderungen aus den apologetischen Schriften mittelalterlicher Autoren übernommen und an die Moderne – meist mit Zuhilfenahme der historisch-kritischen Exegese – angepaßt, aber im allgemeinen fast unverändert beibehalten worden. Und, wie Hugh Goddard zutreffend bemerkt, kann diesen apologetischen Werken über das Christentum nicht bescheinigt werden, daß es die erklärte Absicht der Autoren sei, die keine Primärquellen zu ihrer „Erforschung“ des Christentums benutzten, das Christentum nach seinem eigenen Anspruch zu verstehen. Es geht vielmehr darum, die Überlegenheit des Islams herauszustellen und damit die negativ beurteilende Tradition der muslimischen Sicht des Christentums fortzuführen.10

Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, daß auch Verlautbarungen aus islamischer Feder existieren, die den Wunsch nach friedlicher Koexistenz von Christen und Muslime äußern und den christlichen Glauben weniger explizit abwerten11 Mehrheitlich sind islamische Theologen zwar der Meinung, daß Christen zum Islam gerufen werden müssen und der Islam als gesellschaftliche Ordnung auch im Westen errichtet werden muß, weil er einfach die Wahrheit ist, gelegentlich gibt es jedoch Stimmen, die Christen das Heil nicht grundsätzlich absprechen und zum ehrlichen Dialog aufrufen.

Stimmen aus der Gegenwart über den christlichen Glauben/den Westen

Muslimische Äußerungen über das Verhältnis zu Christentum und westlicher Gesellschaft werden vorwiegend für Muslime zur eigenen Standortbestimmung verfaßt. Einige dieser Veröffentlichungen sind frei zugänglich, manche sogar auf deutsch, von anderen ist lediglich ihre Existenz bekannt, sie dringen jedoch nicht nach außen. Einige dieser ‚internen Schriften’, insbesondere muttersprachliche Veröffentlichungen sind im Grundkonsens ablehnender als Veröffentlichungen, die auch nach außen dringen.

Was zeitgenössische Äußerungen von muslimischer Seite betrifft, so ist festzustellen, daß von den Grundaussagen des Korans über den christlichen Glauben nicht abgewichen wird. So stellt ein Artikel der deutschsprachigen Frauenzeitschrift „Huda – Die Rechtleitung“ unter der Überschrift „Was sagt der Qur’an zu Schirk?“ (arab. shirk: Vielgötterei, Gott etwas ihm Gleiches an die Seite stellen) verschiedene Formen der Vielgötterei nebeneinander (Animismus, Fetischismus, Hinduismus) und rechnet auch die „Vergöttlichung menschlicher Personen, z. B. prophetischer Persönlichkeiten“ dazu. Vor dem Hintergrund, daß der Koran Jesus die Rolle eines Propheten zumißt, wird deutlich, daß hier Christen gemeint sind.12

Eine Veröffentlichung des Muslimischen Studentenvereins Karlsruhe e. V. unter dem Titel „Einführung in das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen“ benennt Christen eindeutig als „ungläubig“ (arab. kafir), gemeinsam mit Juden, Atheisten und Muslimen, die ihre religiösen Pflichten nicht anerkennen.13 Zur Frage, wie ein Muslim in einer westlichen Gesellschaft leben kann, gibt diese Veröffentlichung den Rat:

„Die Freundschaft und Beziehung eines Menschen zu Nichtmuslimen [kann] soweit gehen … solange er dabei nicht vom eigenen Din, dem Islam, Abstriche machen muß oder eine der Regeln des Islam verletzt wird“.14 „Für den Muslim geht es also darum, daß er einerseits ein Teil der Gesellschaft wird, andererseits sich aber von schlechten Dingen der Gesellschaft fern hält und sich nicht daran beteiligt.“15

Hier liegen große Schwierigkeiten für Muslime, die in einer westlichen Gesellschaft leben, und zwar Schwierigkeiten, die sich auf den moralischen wie rituell-religiösen Bereich beziehen. Da der Islam den Genuß von Blut, Aas, Schweinefleisch sowie Alkohol verbietet, ist die Furcht vor Verunreinigung durch Bestandteile von Alkohol, Schweinefetten oder Blut groß, die in kleiner Menge in Lebensmitteln nicht deklariert sein könnten oder bei Pflege- und Arzneimitteln Verwendung finden. Eine rituelle Verunreinigung mit diesen Stoffen bedeutet für Muslime, daß ihre Religionsausübung nichtig ist. D. h., ein im Zustand der Unreinheit ausgeführtes Gebet zählt nicht mit zur Erfüllung der täglichen Gebetspflicht, der Koran darf nicht berührt, eine Moschee nicht betreten werden. Daher machen sich viele Muslime große Sorgen über äußere und innere Verunreinigungen, denen sie in der westlichen Gesellschaft ungewollt ausgesetzt sein könnten.

Aber die Furcht vor Verunreinigung bezieht sich nicht nur auf Speisevorschriften. Ein Artikel aus der Zeitschrift des Islamischen Zentrums München, al-Islam, spricht die moralische Sorge vieler Muslime direkt aus: „Die Zina-Gesellschaft – eine Betrachtung zu Sure 17 Vers 32“16. Sure 17,32 lautet: „Und laßt euch nicht auf Unzucht ein! Das ist etwas Abscheuliches – eine üble Handlungsweise!“ Unzucht (arab. zina) gehört nach koranischer Auffassung für Mann und Frau zu den schwersten Sünden überhaupt und nach Auffassung der maßgeblichen Rechtsgelehrten zu den fünf „Grenzvergehen“ (arab. hadd-Vergehen), die mit schweren Körperstrafen geahndet werden.. Und weil Muslime die westliche Gesellschaft insgesamt als eine „Zina-Gesellschaft“ betrachten, als eine Gesellschaft, in der Unzucht alltäglich ist, ist für viele Muslime die Frage, wie sie zu dieser Gesellschaft die nötige Distanz wahren können, von eminenter Bedeutung.

Die westliche Gesellschaft – aus muslimischer Sicht eine christliche, denn mit dem Christentum wird der Westen identifiziert und verurteilt – vereinigt in sich manches, was aus islamischer Sicht abzulehnen, ja verwerflich ist: In theologischer Hinsicht der Glaube an die Dreieinigkeit und Gottessohnschaft, denn sie bedeutet „shirk“ (Vielgötterei), die Kreuze (oder gar Kruzifixe), denn die Kreuzigung und das Symbol des Kreuzes werden im Islam strikt abgelehnt, die christliche Präsenz (Kirchenglocken, Schulgottesdienste etc.) und Vorrangstellung der christlichen Kirchen vor der islamischen Religionsgemeinschaft. Zwar genießen die Kirchen noch exklusive Rechte, gleichzeitig stellt sich aber aus muslimischer Sicht die westliche Welt als entchristlichte Gesellschaft dar, die geprägt ist von mancherlei – aus muslimischer Sicht – Verwerflichem (in erster Linie dem Verfall der Familien- und moralischen Werte). Hinzu kommen die genannten Ängste vor Verunreinigung und das Empfinden, den Islam in einer westlichen Gesellschaft gar nicht richtig leben zu können, da die entsprechenden islamischen Rahmengesetze fehlen (Eheschließungen, Scheidungen, Schächten, Anerkennung der islamischen Festtage als Feiertage, getrennter Sportunterricht u.a.m.).

Wen wundert es, wenn gegenseitige Distanz, Mißtrauen und Nichtverstehen den Alltag prägen?

Ambivalenz

Das islamisch-christliche Verhältnis ist also ein ambivalentes. Schon der Koran läßt positive wie ablehnende Aussagen nebeneinander stehen, die aus der Entwicklung des Verhältnisses Muhammads zu den Christen erklärbar sind. Einerseits anerkennen viele Muslime bei überzeugten Christen ihren prinzipiellen Glauben an Gott, ihre Orientierung an moralischen Maßstäben, ihre Familienorientiertheit, ihre Ausrichtung des jetzigen Lebens auf Gott angesichts des kommenden Gerichtes und den Glauben an – wie Muslime meinen – gemeinsame ‚Propheten’ in Islam und Christentum (darunter als wichtigste Personen Adam, Abraham, Mose, Maria und Jesus), andererseits bleibt das Trennende (der christliche Glaube an Dreieinigkeit, Gottessohnschaft, Kreuzigung), das unter dem Vorwurf des Götzendienstes und der Vielgötterei aus muslimischer Sicht eben doch sehr schwer wiegt. Hinzu kommen die Hemmnisse des praktischen Zusammenlebens in einer Gesellschaft, die keine christlich geprägte mehr ist, aber auch die islamische Religionsausübung und die Beachtung der islamischen Vorschriften nicht erleichtert, ja teilweise sehr erschwert.

Ebenso ambivalent wie das Urteil des Korans sind Christen im expandierenden islamischen Weltreich nach Muhammad und als Minderheiten in der islamischen Welt behandelt worden: einerseits als eine Art „Teilgläubige“ mit der Zusicherung ungehinderter Religionsausübung und einer gewissen Existenzberechtigung ausgestattet, andererseits aber de facto unter erheblichen Beschränkungen, ja oftmals Druck bis de facto zum Zwang zur Konversion, da mit dem Übertritt mancherlei Begünstigungen und mit dem Festhalten am christlichen Bekenntnis Benachteiligungen und Diskriminierungen verbunden waren und sind.

Dialog aus muslimischer Sicht

So überwiegt – trotz mancher Sympathien für die Schriftbesitzer und ihre Gotteserkenntnis – bei vielen muslimischen Theologen doch die Distanzierung, ja oft auch Verurteilung und Ablehnung der Christen aufgrund ihrer falschen Theologie, zu der heute immer stärker die Veruteilung der westlichen Lebensweise tritt. Vom Dialog erwarten muslimische Theologen in der Regel, daß Christen für die – für sie unbestrittene – Wahrheit des Korans und die Sendung Muhammads Verständnis aufbringen, denn diese Auffassungen aufzugeben, ja nur anzuzweifeln, wäre aus Sicht muslimischer Theologen unvorstellbar. Manche muslimischen Theologen fordern ganz offen, daß Christen den Gedanken der Mission aufgeben müssen, bevor der Dialog beginnen könne. Aus islamischer Sicht hat nur der Islam ein Recht auf Da’wa (Einladung zum Islam) und das Christentum kein Recht auf Mission Das Christentum wird im islamischen Gebiet geduldet, in dem der Islam die Mehrheitsreligion ist, hat aber kein Recht auf Expansion oder Propagierung. Es fällt den meisten Muslimen entsprechend schwer, nachzuvollziehen, daß aus christlicher Sicht durchaus ein Ungleichgewicht zwischen den zahlreichen Rechten für Muslime in der westlichen Welt und den vielen Beschränkungen für Christen in der islamischen Welt besteht.

Literatur

  • Ayoub M., Muslim Views of Christianity. Islamochristiana (Rom) 10/1984, S. 49-70.
  • Goddard, H., Muslim Perceptions of Christianity. Grey Seal, London, 1996.
  • Huda – Die Rechtleitung, 1/01.
  • Kerr, M., Islamic Reform. The Political and Legal Theoriesof Muhammad ‘Abduh and Rashid Rida. Berkeley, 1966.
  • Khoury, A. T. & Hagemann, L., Christentum und Christen im Denken zeitgenössiger Muslime. CIS-Verlag, Altenberge 1986.
  • Mühlbauer, A. Die Zina-Gesellschaft – eine Betrachtung zu Sure 17:32. al-Islam 1/2001.
  • Muslimischer Studentenverein Karlsruhe e.V. (Hg.), Einführung in das Verhältnis von
    Muslimen und Nichtmuslimen. Grundsätze – Geschichte – Muslime im Westen, Karlsruhe 1999.
  • Shalabi, A. mqaranat al-adyan. .al-Qahira 1960/2.
  • Zahra A. muhadarat fi-n nasraniya. al-Qahira 1966/3.

  1. Malcolm Kerr. Islamic Reform. The Political and Legal Theories of Muhammad ‘Abduh and Rashid Rida. Berkeley 1966. 

  2. M. Ayoub. Muslim Views of Christianity. Some modern examples. in: Islamochristiana (Rom) 10/1984. S. 49-70, hier S. 58. 

  3. Zahra. Muhadarat fi- n-nasraniya, al-Qahira 1966/3. S. 160ff. 

  4. Abu Zahra über die Dreieinigkeit: muhadarât. S. 103-110 u. S. 129ff. 

  5. Hugh Goddard. Muslim Perceptions of Christianity. Grey Seal: London, 1996, S. 61. 

  6. Ebd. S. 83/84. 

  7. Shalabi. muqaranat. S. 130-140 und Ayoub. Views. S. 64. 

  8. Shalabi. muqaranat. S. 25ff.; vgl. auch Ayoub. Views. S. 62. 

  9. So auch Hugh Goddard. Muslim Perceptions of Christianity. Grey Seal: London, 1996, S. 93. 

  10. Ebd. S. 94. 

  11. Einige Beispiele s. bei Adel Theodor Khoury; Ludwig Hagemann. Christentum und Christen im Denken zeitgenössischer Muslime. CIS-Verlag Altenberge, 1986, S. 173ff. 

  12. Huda – Die Rechtleitung Nr. 1/01 (März 2001), S. 3. 

  13. Muslimischer Studentenverein Karlsruhe e. V. (Hg.) Einführung in das Verhältnis von Muslimen und Nichtmuslimen. Grundsätze – Geschichte – Muslime im Westen, Karlsruhe 1999, S. 20. 

  14. Ebd. S. 31. 

  15. Ebd. S. 142/143. 

  16. Ayyub Mühlbauer. Die Zina-Gesellschaft – eine Betrachtung zu Sure 17 Vers 32. in: al-Islam 1/2001, S. 4-8.