Wohin unternahm Muhammad seine „Nachtreise“?

Manfred Karl Böhm

Der Autor studierte kath. Theologie, Philosophie und Politikwissenschaft in Mainz, Tübingen und München und ist freiberuflicher Referent in der kirchlichen und freien Erwachsenenbildung und Publizist. Seine Arbeitsschwerpunkte sind christliche Ostkirchen, Judentum und Islam.

Jerusalem – die drittheiligste Stadt des Islam

Muslime geben Jerusalem dem Beinamen al-Balad (die Stadt) oder al-Quds, die Heilige. Nach Mekka und Medina ist für sie Jerusalem die drittheiligste Stadt der Welt: Bait al-muqaddas, das heilige Haus. In der Zeit der Kreuzzüge und danach entstanden die Fada‘il al-quds, Traktate, die Jerusalem Lob singen und seine Vorzüge preisen.1 Dort heißt es:

„Jerusalem ist das Zentrum der Welt, jenes Stück Erde, das dem Paradies am nächsten liegt.“ – „Wer in Jerusalem betet, dem werden die guten Taten doppelt vergolten.“

Auch eine große Zahl von Hadith-Sprüchen2 unterstreicht die Heiligkeit Jerusalems:

„Besser ein Gebet in al-Medina als tausend Gebete sonst wo, ausgenommen in al-Aqsa.“ – „Fünf Gebete in Jerusalem reinigen den Pilger und machen ihn so unschuldig wie am Tag seiner Geburt.“

Diese besondere Ehre erweist man Jerusalem, weil, wie islamische Traditionen zu erzählen wissen, die berühmte Nachtreise (isra) Muhammad nach Jerusalem führte und er von dort in den Himmel aufgestiegen sei (miraj). Beide großen islamischen Heiligtümer, die Kubbet as-Sachra (Felsendom) und die al-Aqsa-Moschee werden heute mit der Erinnerung an diese Ereignisse verknüpft. Grundlage dazu liefert die Surat al-Isra 17,1:

„Gepriesen sei der, der bei Nacht seinen Diener von der heiligen (al-haram) Moschee zu der fernen (al-Aqsa) Moschee, deren Umgebung wir gesegnet haben, hinführte (asra), auf dass wir ihm einige unserer Zeichen zeigten. Wahrlich, er ist der Allhörende, der Allsehende.“

Führte die Nachtreise Muhammads nach Jerusalem?

Kann diese Stelle wirklich zur Begründung der Heiligkeit Jerusalems angeführt werden? Dieser Frage geht der Kolumnist Ahmad Muhammad ‚Arafa in einer Textanalyse nach, die er in der vom ägyptischen Kulturministerium herausgegebenen Wochenzeitung al-Qahira, veröffentlicht hat. ‚Arafas Resultat ist negativ. Der Vers nehme nicht Bezug auf Jerusalem. Die wundersame Nachtreise Muhammads spiele vielmehr auf die Emigration (hijra) des Propheten nach Medina an.

Verfolgen wir die Argumentation von ‚Arafa3

Die zwei im Vers aufgeführten Moscheen sind die al-Haram-Moschee (in Mekka) und die al-Aqsa-Moschee. „al-Aqsa“ ist ein Superlativ und bedeutet „die Entfernteste“. Der Ort, wohin Muhammad gebracht wurde, muss deshalb eine Moschee sein, die sehr weit weg ist von der al-Haram-Moschee. In Palästina habe es jedoch zu Muhammads Zeit keine Moschee gegeben. Damals lebten in Palästina keine Menschen, die an Muhammad glaubten und ihre Gebete an spezifischen Stätten, sogenannten Moscheen, verrichteten. Überwiegend waren die Bewohner Palästinas Christen, unter denen eine jüdische Minderheit lebte. Der Koran kennt jüdische und christliche Gotteshäuser; nennt sie aber nicht Moscheen, sondern „Kirchen und Synagogen“ (vgl. Surat al-Hajj 22, 40). Der Bau einer Moschee in Jerusalem, bekannt als al-Aqsa-Moschee, sei erst unter der Dynastie der Omayyaden erfolgt.

Das Verbalsubstantiv „isra“ werde in diesem Vers gebraucht für den geheimen Aufbruch von einem gefahrvollen zu einem sicheren Ort. Der koranische Ausdruck “Der bei Nacht seinen Diener hinführte“ wird von ‚Arafa so gedeutet, dass Allah seinen Propheten zu einer geheimen Reise anwies, die ihn weg von seinen Feinden zu einer für ihn und seine Sendung sicheren Stätte hinführte. Mit anderen Worten. Nach Ahmad Muhammad ‚Arafa spricht der Text von der Hijra (Auswanderung) des Propheten von Mekka und Medina im Jahr 622, und nicht von einem Besuch Palästinas.

Den Grund für die Nachtreise nenne Allah mit den folgenden Worten: „auf dass wir ihm einige unserer Zeichen zeigten.“ Die Exegeten und Hadith-Tradenten interpretierten dies gewöhnlich als Anspielung auf Muhammads Vision, in der er die ihm vorangegangenen Propheten sieht und sie zum Gebet ermuntert. Einige Interpreten fügen noch den Aufstieg zum Himmel dazu, sowie die Schau des Paradieses und der Hölle.

Einleuchtender sei es aber, so ‚Arafa, wenn man die Zeichen in den Auswirkungen der Nachtreise des Propheten sähe; und zwar in der Befreiung von seinen Feinden, die in seiner Heimatstadt Mekka mit List sich dazu verschworen hatten, ihn gefangen zu nehmen oder zu töten, in Muhammads Grundlegung des islamischen Staates in Medina, in der siegreichen Schlacht von Badr, im Vertrag von Hudaybiyya, dann in der Eroberung Mekkas und in der Verbreitung seiner Botschaft durch die Da‘wa, den Ruf zum Islam. Das seien die klaren Zeichen, die ihren Ort in der Welt des Menschen haben.

Dagegen erwähnen die Exegeten und Hadith-Interpreten, dass diese Zeichen nicht von dieser Welt seien. Entweder wurden die Zeichen nach herkömmlichem Verständnis dem Propheten als Metaphern für das Überirdische vermittelt oder aber der Prophet erfuhr eine Verwandlung, die ihm ermöglichte, tatsächlich all das zu sehen. Nach ‚Arafa kann aber von göttlichen Zeichen nur die Rede sein, wenn sie tatsächlich in physischer Gestalt gesehen werden. Aus den Worten Allahs „auf dass wir ihm einige unserer Zeichen zeigten“ sei zu entnehmen, dass Muhammad, um die Zeichen zu Gesicht zu bekommen, zu einem besonderen Ort gehen muss.

Der Sieg der Da‘wa Muhammads, seiner Einladung zum Islam, beruhe auf seiner Reise nach Medina, wo sich seine „Ansar“ (Helfer) aufhielten. Einige oder alle Propheten zu sehen, setze nicht eine Reise nach Jerusalem voraus. Das Wunder ihrer Auferstehung oder die Aufnahme Muhammads in ihren Wohnsitz hänge nicht von einer solchen Reise ab. Auch wenn wir von dem Argument ausgingen, dass alle Propheten vor Muhammad in Jerusalem begraben seien, und wir diese Stadt als Kultort annähmen, so sei es dennoch weit angemessener, wenn diese zu ihm nach Mekka gekommen wären, aus Achtung vor ihm und vor Mekka, dem Zentrum der Verehrung Allahs.

Wenn in Vers 17,1 gesagt wird „er ist der Allhörende, der Allsehende“, dann bedeute das, dass Gott die Dinge wahrnimmt, die unmittelbar mit der Situation Muhammads zu tun haben. Allah hörte die demütige Bitte des Propheten, ihn vor der hinterlistigen Verschwörung seines eigenen Stammes, der Quraysh, zu schützen, und verschaffte ihm für seinen Auftrag einen Zufluchtsort mit arabischem Umfeld. Allah, der All-Sehende, erkannte die Intrige, ihn ermorden oder gefangen nehmen zu wollen. Darum ist nach ‚Arafa die Reise Muhammads (Isra) mit der heimlichen Auswanderung Muhammads (Hijra) gleichzusetzen, die an dem Tag erfolgte, als die Gegner Muhammads sich in Mekka entschlossen hatten, gegen ihn vorzugehen.

‚Arafa gibt eine Tradition wieder, die er dem Buch Fiqh al-Sira des syrischen Rechtsgelehrten Muhammad Sa‘id Ramadan Al-Buti entnimmt. Danach wurde Muhammad von seinem Kamel gleich bei der Ankunft in Medina zu einem Platz geführt, das Abu Ayyub al-Ansari, der sein Haus gegenüber hatte, als Gebetsstätte (musalla) nutzte. An dieser Stelle gab der Prophet den Befehl zum Bau einer Moschee. ‚Arafa folgert daraus, dass das Endziel der Hijra die Gebetstätte von Asad Ibn Zurara war, also ein Ort in Medina.

Der gestohlene Name

In einem weiteren Artikel4 in derselben Zeitung fragt Ahmad Muhammad ‚Arafa nach den wahren Gründen für die Erbauung der islamischen Kultbauten in Jerusalem.

Palästina wurde im Jahr 14 nach der Hijra, d.i. 638 n. Chr., von den Muslimen zur Regierungszeit ‚Umar Ibn al Khattabs erobert. Die Bewohner Jerusalems begannen den Islam anzunehmen. Existierte vor dieser Zeit bereits eine Moschee, die „die entfernteste“ (al-Aqsa) genannt wurde? Das ist ‚Arafas Ausgangsfrage. Es stimme, dass der Prophet sein Gebet nach Iliya (Aelia), – so der damalige lateinische Name Jerusalems – ausrichtete, und zwar über 17 Monate hinweg. Dann aber wechselte er, nach Anweisung Allahs, in Richtung der al-Haram-Moschee in Mekka. Der Prophet teilte also für eine kurze Zeit die Gebetsrichtung der Juden. Nachdem aber Jerusalem nicht mehr von den Muhammads Gefolgsleuten als Kultstätte angesehen wurde, verdiente diese Stadt nur noch so viel Beachtung wie jede andere damalige Stadt. Wenn dies nicht so verstanden werde, werde nach Ansicht ‚Arafas der Wechsel der Gebetsrichtung bedeutungslos.

Die beiden Bauten Kubbet as-Sachra und die al-Aqsa-Moschee seien das Ergebnis politischer Rivalität.5 Als ‚Ab Al-Malik Ibn Marwan Kalif wurde und sein Rivale Ibn Al-Zubayr die Kontrolle über den Hijaz (das Gebiet um Mekka und Medina) behielt, fürchtete der Kalif, dass die Leute, die nach Mekka pilgerten, sich seinem Gegner geneigt machen könnten. Aus diesem Grund verbot ‚Abd Al-Malik seinen Untertanen die Pilgerreise solange der Krieg dauerte. Er begann in dieser Zeit eine große Moschee in Jerusalem zu bauen, die die vormalige Qibla (Gebetsrichtung) aufwies. Das war auch der Beginn von Traditionen, die die religiöse Bedeutung dieser Heiligtümer begründete und aus Jerusalem die heilige Stadt machten. Die neue Moschee wurde zunächst „die Moschee von Aelia“ genannt, und es wurden prophetische Traditionen hinzugefügt, die diesen Namen erwähnten. Schließlich wurde der Name „al-Aqsa“ für diese übernommen, weil diese die am weitesten entfernteste von Mekka und Medina war. Diese nominelle Translation ging mit der Zeit in Vergessenheit. Die Heiligkeit Jerusalems wurde aber zu jenem festen Bestandteil der islamischen Religion, der heute bei der politischen Legitimation des arabischen Status Jerusalems eine entscheidende Rolle spielt.


  1. Dort Zitiert nach: Karl-Heinz Fleckenstein, Wolfgang Müller: „Jerusalem. Die heilige Stadt der Juden, Christen und Muslime“, Freiburg im Breisgau 1988, S. 177. 

  2. Ebd. 

  3. Al-Qahira, August 5, 2003; vgl. MEMRI, Special Dispatch Series, 3. September 2003 No. 546. 

  4. Al-Qahira, August 19, 2003; vgl. MEMRI, Special Dispatch Series 3. Oktober 2003, No. 583. 

  5. Der Autor wiederholt eine Teiltheorie von Ignaz Goldziher („Muhammedanische Studien“, 2. Teil, Halle 1890, Neudruck: Hildesheim 1961, 35ff). Nach dieser war es der Wunsch Abd al-Maliks, die Wallfahrt von Mekka nach Jerusalem umzuleiten. In einer stellvertretenden Hajj zur Kubbet as-Sachra wurde auch der obligate Umzug (tawaf) mit gleicher Gültigkeit, wie ihn das islamische Gesetz um die Kaaba vorsah, verordnet. Dieser Theorie wurde jedoch von S.D. Goitein („Studies in Islamic History and Institutions“, Leiden 1966) widersprochen, weil u.a. die antiken Quellen, die detaillierte Berichte über den Krieg darbieten, nicht die geringste Anspielung auf eine derartige Rivalität machen. Goitein vertritt stattdessen die These, dass der Bau des »Felsendoms« durch die kulturellen Erfordernisse der zweiten Generation der Muslime veranlasst wurde: Der »Felsendom« war in der Absicht als ein Instrument des Wetteifers gegen die Christen errichtet worden und als Aufforderung an diese, die neue Religion anzunehmen. Zudem war dieses Objekt geeignet, zu zeigen, wer der wahre Herrscher des Islams war, nämlich Abd al-Malik, und nicht Ibn Zubayr.