Islamismus – Argumente zur Beurteilung in Thesen

Eberhard Troeger

1. Der Islamismus ist eine moderne religiöse Ideologie. Sie ist aus der Rückbesinnung auf die ideal verstandene Frühzeit des Islam – das Modell von Medina mit seiner Einheit von religiösem und politischem Islam – und aus der Auseinandersetzung der Muslime mit dem modernen aufgeklärten Denken des Westens mitsamt seinen Ideologien – Rationalismus, Idealismus, Humanismus, Sozialismus, Nationalismus, Faschismus – entstanden.

2. Im Zentrum des Islamismus steht der Gedanke der Einheit – der Einheit Allahs, der Einheit der islamischen Weltgemeinschaft (arab. umma) und der Einheit der Gesellschaft unter den Geboten Allahs (arab. sharia). In diesem Sinn schrieb Ahmad von Denffer:

„Im Gegenteil ist die Einsicht für Muslime ein Ansporn, sich nach besten Kräften dafür einzusetzen, diese Gesellschaft in eine islamische umzuwandeln.“1

3. Der Islamismus will einen Islam, der alle Bereiche des Menschseins prägt, vom Individuum, über die Familie bis hin zur Gesellschaft und der politischen Ordnung. Der Islamismus trägt deshalb unverkennbar totalitäre Züge. In der Auseinandersetzung mit dem westlichen Denken hat er rationalistisches – „der Islam ist logisch“, humanistisches – „der Islam ist dem Menschen angemessen“ , sozialistisches – „der Islam schafft eine einheitliche, rassenfreie Gesellschaft“ -, nationalistisches – „der Islam schafft eine einheitliche Nation“) bis hin zu faschistischem Gedankengut – „Muslime sind anderen Menschen überlegen“ – in sich aufgenommen. In diesem Sinn äußerte sich ein Funktionär der türkischen IGMG:

„Uns reicht nicht nur unsere eigene Befreiung. Wir setzen uns für die Befreiung der ganzen Menschheit ein und sind die Vertreter einer Gesellschaft, die sich vor keiner Selbstlosigkeit scheut… Die Befreiung der Menschheit, ihr Wohl und Glück sind über den Koran möglich.“2

Dr. Nadeem Elyas, der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland, schrieb:

„Der Islam regelt als ganzheitliche Lehre alle Bereiche des Lebens, setzt den ethischen Rahmen für die zwischenmenschlichen Beziehungen und liefert die Grundsätze, nach denen sich politisches Handeln und ein Staatsaufbau orientieren sollte. Die gesellschafts- und staatsrelevanten Leitbilder des Islams haben aber nur Gültigkeit für die Muslime und haben nur in einem islamischen Staat mit einer islamischen Bevölkerungsmehrheit verbindlichen Charakter.“3

4. Der Islamismus umfasst ein weites Spektrum. Islamisten wollen ihre Ziele entweder mit friedlichen Mitteln durch Werbung für den Islam, vorbildliches Leben, soziale Aktionen, Durchdringung der Gesellschaft, Marsch durch die Institutionen, Benutzung demokratischer Wahlen, wirtschaftlichen Druck usw. oder durch Radikalisierung der Muslime und durch revolutionären Kampf unter Einschluss von Gewaltanwendung bis hin zum Terrorismus erreichen.

„Die im Bundesgebiet aktiven extremistisch-islamischen (islamistischen) Gruppen wollen zum Teil nicht mehr nur die in ihren Heimatländern bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnungen durch ein auf der Scharia (islamisches Rechtssystem) basierendes islamistisches Gesellschaftssystem ersetzen, sondern streben die Errichtung eines antilaizistischen Gottesstaates auf der ganzen Welt an und wollen auf dem Wege dahin ihren Anhängern zunehmend auch im Bundesgebiet ein entsprechendes gesellschaftliches Leben ermöglichen. Die Islamisten gehen davon aus, dass mit der Scharia, d.h. der islamischen Rechtsordnung, die aus Koran und Sunna (in schriftlichen Überlieferungen – Hadithen – dokumentierte Taten und Aussprüche des Propheten) abgeleitet ist, eine alle Lebensbereiche umfassende islamische Gesellschaftsordnung vorgegeben sei, die es überall zu verwirklichen gelte. Die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Islamismus entsprächen wegen ihres göttlichen Ursprungs als einziges gesellschaftliches System in allen Aspekten vollständig der menschlichen Natur. Nach dem Versagen des Kommunismus und dem sich ihrer Ansicht nach abzeichnenden Scheitern des Kapitalismus werde der Islamismus als ‚dritter Weg‘ seinen Siegeszug fortsetzen und die von allen Menschen herbeigesehnte ‚zivilisierte‘ Gesellschaft schaffen, in der staatliche Herrschaft nicht mehr von der Willkür der Menschen abhänge, sondern allein von Gott ausgehe. Aufgrund ihres Absolutheitsanspruches kollidieren die Vorstellungen von Islamisten mit grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie Achtung der Menschenrechte – z.B. Gleichberechtigung der Frau – dem Prinzip der Volkssouveränität, dem Prinzip der Gewaltenteilung, dem Mehrheitsparteienprinzip oder dem Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition.“4

5. Es ist verkehrt, nur die radikalen Muslime Islamisten zu nennen. Die radikalen Islamisten sind daran erkennbar, dass sie ihre Ziele so rasch wie möglich erreichen wollen, während die moderaten Islamisten einen langen Atem haben und deshalb nicht sofort als solche erkennbar sind. Manchmal muss man genau hinschauen, um ihre ideologischen Gedanken und Ziele zu erkennen. Ahmad von Denffer schrieb:

„Vielmehr gilt nach Koran und Sunna ‚grundsätzlich‘ die Einschränkung, dass da kein Gehorsam erfolgen kann und darf, wo das zu einem Ungehorsam gegenüber Allah führen würde.“5 „Den Muslimen ist statt dessen die Vorstellung wichtig, dass sie, wo immer sie leben, ein Teil der weltweiten ‚umma‘, der Gemeinschaft der Gläubigen, sind, und dass ihre Identität im wesentlichen dadurch bestimmt sein sollte.“6

Die deutsche Bundesregierung stellte fest:

„Dem Politikverständnis von Islamisten ist auch ein taktisches Verhältnis zur Frage der Gewaltanwendung immanent. Nach Ansicht islamistischer Theoretiker schließt ‚Jihad‘ (wörtlich: innerer Kampf, Anstrengung oder heiliger Krieg) als Instrument zur Verwirklichung der islamistischen Gesellschaftsordnung alle zum Sieg verhelfenden Mittel ein. So befürwortet die Mehrzahl der islamistischen Gruppierungen aus dem arabischen Raum Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Die im Bundesgebiet mitgliederstärkste Gruppierung, die türkische IGMG, setzt dagegen auf politische Aktivitäten zur Veränderung der gesellschaftlichen Ordnungen in der Türkei und in Deutschland.“7

6. Der Islamismus ist heute die prägendste Bewegung in der islamischen Welt, da er die Medien und Ausbildungsstätten dominiert. Mindestens ein Viertel der Muslime weltweit denken in irgend einer Weise islamistisch, auch wenn sie nicht unbedingt radikal-islamische Parteien wählen.

„Der politische Islam oder Islamismus ist und bleibt die größte ideologische Kraft in den Regionen von Nordafrika bis Südostasien.“ „Keine andere Ideologie hat in der muslimischen Welt einen auch nur entfernt vergleichbaren Einfluss.“ „Ob wir es wollen oder nicht: Der Islamismus wird – in unterschiedlichen Erscheinungsweisen – in Zukunft die vorherrschende intellektuelle Strömung in einer riesigen Region sein – und dieser Prozess steckt noch in den Kinderschuhen.“8 „In der dritten Welt ist der Islam nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sich vom Dschihad viele eine Waffe gegen den übermächtigen Westen versprechen. Das gilt auch für die arabische Welt. Dort ist der politische Islam seit drei Jahrzehnten die dominierende Ideologie.“9

7. Es ist nicht zu erwarten, dass der Islamismus so schnell an Kraft verlieren wird wie die westlichen Ideologien, da er eine tief im Herzen der Menschen verankerte religiöse Ideologie ist.

8. Die Stärke des Islamismus liegt nicht in der Mobilisierung der armen Massen in der islamischen Welt. Er hat seine Basis vielmehr bei den Massen von Jugendlichen, die in den Schulen und Universitäten nicht selten eine Halbbildung erfahren und für radikale Ideen anfällig sind. Deshalb wird der Islamismus nicht allein durch Wohlstand überwunden, schon eher durch Erziehung zu kritischem Denken.

9. Zur Überwindung der Islamismus als Ideologie ist sowohl ein anhaltender und ehrlicher Dialog nötig, als auch staatliche Gewalt, die Islamisten in ihre Grenzen weist. Die demokratischen Staaten müssen sich gegen die islamistischen Totalitätsansprüche wehren.

„Einen islamischen Weltstaat dürfte es in überschaubaren Zeitläuften wohl kaum geben. Aber der Islam hat eine außerordentlich integrative Kraft, die trotz aller Gruppendifferenzen das Fernziel einer Weltherrschaft nicht aus den Augen verliert.“10

10. Der Islamismus ist aus christlicher Sicht ein idealistisches Gedankengebäude, das langfristig an der Realität des Lebens bzw. an der eigenen Unfähigkeit zur Überwindung des Bösen (der Sünde) scheitern wird. Der Islamismus wird in einer tiefen Enttäuschung enden. Zeitliche Prognosen sind aber nicht möglich.

11. Die beste christliche Antwort auf den Islamismus ist deshalb die Verkündigung der Botschaft von der Versöhnung des Sünders in Jesus Christus. Allein im Evangelium wird die Situation des Menschen vor Gott realistisch gesehen, und nur das Evangelium hat eine realistische Antwort auf die idealistischen Sehnsüchte von Islamisten. Diese Botschaft wird glaubhaft, wenn Islamisten solche Christen erleben, die ein Leben aus der Vergebung und im Gehorsam gegenüber Gottes Willen leben. Die Begegnung mit Islamisten ruft Christen zu ihrer eigentlichen Berufung zurück.


  1. Al-Islam. Zeitschrift von Muslimen in Deutschland. 2/2002, S. 14. 

  2. ,Milli Gazete‘ (Nationale Zeitung) vom 20.03.2000 (Verfassungsschutzbericht 2000) und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.9.01: »Im Namen einer göttlichen Ordnung. Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern«, S. 10. 

  3. Das weiche Wasser wird besiegen den harten Stein. Islamischer Informationsdienst Aachen. 1997, S. 122f., zitiert in: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski (Recklinghausen), Wolfgang Zeitlman, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, Drucksache 14/4530 vom 8.11.2000, S. 73). 

  4. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski (Recklinghausen), Wolfgang Zeitlman, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, Drucksache 14/4530 vom 8.11.2000, S. 67f. 

  5. Ahmad von Denffer in: Al-Islam. Zeitschrift von Muslimen in Deutschland. Nr.2/ 2002, S. 13. 

  6. Ebd. S. 15 

  7. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski (Recklinghausen), Wolfgang Zeitlman, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, Drucksache 14/4530 vom 8.11.2000, S. 67f. 

  8. Graham S. Fuller. Ehemaliger Vizepräsident des National Intelligence Council bei der CIA, USA, in: Der Koran passt zur Freiheit. Fundamentalismus: Liberalisierung und Demokratisierung der muslimischen Welt können nur von innen erfolgen. – Rheinischer Merkur Nr.12, 2002, S. 8. 

  9. Rainer Hermann, Die Ich-Erzählung Gottes. Hürden und Sachkasse im Dialog mit dem Islam, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.12.01. 

  10. Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland. Nebeneinander oder Miteinander, Freiburg 1998, S. 333.