Türkisches Religionsministerium beschäftigt 100.000 Geistliche
B O N N (28. Oktober 2005) – Trotz offizieller Trennung von Staat und Religion seit der Staatsgründung vom 29.10.1923 durch Mustafa Kemal Atatürk mischt sich der türkische Staat bis heute in viele religiöse Belange ein. Das Religionsministerium beschäftigt rund 100.000 Angestellte, unter anderem Imame (Vorbeter), Prediger, Muezzine und Rechtsgelehrte und fördert islamische Initiativen auch im Ausland. Außerdem kontrolliert und fördert der Staat die 70.000 Moscheen im Land. Islamischer Religionsunterricht ist seit 1982 wieder Pflicht an den Schulen und wird auf der Grundlage des sunnitischen Islams erteilt. Koranschulen sollen die religiöse Bildung im ganzen Volk stärken.
Abkehr von Atatürks Laizismus
Dabei beabsichtigte der strenge Kemalismus der Gründerzeit die Zurückdrängung des Islams aus dem politisch-gesellschaftlichen in den persönlich-privaten Bereich. Mit der Proklamation der Republik Türkei wurde die islamische Herrschaftsform des Kalifats durch einen laizistischen Nationalstaat ersetzt. Das islamisch geprägte Bildungssystem wurde säkularisiert, äußerliche Erkennungsmerkmale des Islam verboten. Der Gebetsruf erfolgte fortan in Türkisch, Sprachreformen sollten die national-türkische Identität stärken und die Sprache von den arabisch-islamischen Einflüssen befreien. Die strikte Trennung von Staat und Religion wurde 1937 als Grundsatz in die Verfassung aufgenommen.
Bereits in den Fünfzigern änderte auch die Einheitspartei Atatürks ihren bis dahin antireligiösen Kurs. Nicht zuletzt, um links- und rechtsextremistische Tendenzen und Bestrebungen des politischen Islams entgegenzuwirken. Durchgesetzt hat sich auch in der jetzigen islamischen Regierungspartei des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ eine türkisch-islamische Synthese. Demnach wird die Religion nicht mehr aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt, allerdings vom Staat genutzt, kontrolliert und gesteuert.
Islam als Einheitsband der Nation?
Die Liberalisierung des Stiftungsrechts kommt bis heute vor allem den islamischen Gruppen zugute. Besonders die Bruderschaften nutzten die Erweiterung zivilrechtlicher Möglichkeiten, gründeten islamische Zeitungen und Unternehmen und richteten eigene Schulen ein. Islamische Fernsehkanäle und Radiostationen wurden etabliert. Viele Türken verstehen den Islam heute als einigendes Band der Nation. Das offizielle islamische Bekenntnis wird als Ausdruck der Loyalität gegenüber der türkischen Nation verstanden. Dagegen gilt vielerorts eine Abkehr, beispielsweise zum christlichen Glauben, als Verrat am türkischen Volk und bringt den Betroffenen nicht selten erhebliche Nachteile im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich ein. Die faktische, nicht bloß gesetzliche Gleichberechtigung anderer Religionsgemeinschaften und ihrer Anhänger gehört zu den Grundforderungen der EU im Rahmen der anstehenden Beitrittsverhandlungen.
Nachdruck honorarfrei, Belegexemplar wird erbeten.