Rezension: Nahed Selim. Nehmt den Männern den Koran: Für eine weibliche Interpretation des Islam

Bärbel Debus

Nahed Selim. Nehmt den Männern den Koran: Für eine weibliche Interpretation des Islam. Piper Verlag: München/Zürich, 2006, 336 S., 19.90 €.

Für viele muslimischen Männer haben Frauen zu schweigen, wenn es um den Islam, den Koran und seine Auslegung geht. Damit will sich die ägyptische Journalistin Nahed Selim nicht abfinden und setzt sich als kritische, aber gläubige Muslimin in ihrem Buch „Nehmt den Männern den Koran“ mit ihrem Glauben und der „männlichen“ Interpretation des Korans auseinander.

Wer aber ist Nahed Selim, die über sich selbst schreibt: „Ich lasse nicht zu, daß sich diese Texte zwischen mich und Gott stellen. Gott, vergib mir, daß ich Deine Verse kritisiere, und ich vergebe Dir diese beleidigenden und frauenfeindlichen Texte“ (S. 73)? Sie wurde 1953 in einem Dorf im ägyptischen Nildelta geboren und wuchs in einer liberalen, aber nicht wohlhabenden Familie auf. Als sie fünf Jahre alt war, erlebte sie 1967 unter der Regierung Nassers die Niederlage der ägyptischen Armee gegen Israel, worauf die Hinwendung Ägyptens zum Islam stärker wurde, denn der Islam galt vielen Menschen nun als die einzige Möglichkeit der Gegenwehr gegen den Westen. Die Gründung von islamischen Parteien und eine zunehmend strikte Auslegung des Korans waren die Folge.
Nahed Selim studierte Englische Literatur in Kairo und in Amsterdam. Sie lebt dort heute mit ihrer Familie und arbeitet als Dolmetscherin und freie Journalistin.

Ihr Buch „Nehmt den Männern den Koran“ ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil setzt sich die Autorin kritisch mit verschiedenen Koransuren und –versen auseinander, die das Leben und Verhalten der Frau betreffen. Dabei behandelt sie u. a. die koranische Schöpfungsgeschichte, die Bekleidungsvorschriften, das Erbrecht, die Ehe und die Sexualität. Auch Themen wie Zweifel und Unglauben werden behandelt. Nahed Selim spricht sich dafür aus, den Männern den (traditionell eingeforderten) Gehorsam zu verweigern und nicht das von ihnen kontrollierte „Saatfeld“ zu sein (Sure 2,223). Sie macht sehr deutlich, dass die Botschaft des Korans bewusst zum Nachteil von Frauen ausgelegt wurde und auch heute noch wird. Die Ursache sieht sie darin, dass Männer nach dem Tod Muhammads Frauen daran hinderten, ihre durch den Koran neu erworbenen Rechte auch wahrzunehmen.

Nahed Selim kritisiert aber nicht nur die Lebensgefährten Muhammads, sondern übt auch Kritik an den heutigen obersten Autoritäten des Islam, ja macht sogar vor Muhammad selbst nicht halt. Sie wirft ihm vor, selbst auch frauenfeindliche Aussagen getroffen zu haben. Die Kritik an Muhammad wird aber dadurch gemildert, dass die Autorin darauf verweist, dass im wesentlichen spätere Theologen durch ihre Interpretation großes Interesse daran hatten, den Koran und den Islam frauenfeindlich zu interpretieren, um so die eigene Macht und den eigenen Einfluss zu mehren. Die Autorin kommt daher zu dem Schluss, dass die meisten Regeln zur Unterdrückung der Frau erst durch Theologie und Exegese entstanden sind, die Unterdrückung also das Resultat von Fehlinterpretation, Instrumentalisierung und falscher Übersetzung der Texte ist.

Teil zwei des Buches gibt durch die Porträts der Ehefrauen Muhammads Einblick in sein Familienleben. Der Leser lernt die „Mütter der Gläubigen“ als raffinierte und selbstbewusste Frauen kennen, die durchaus dazu im Stande waren, ihre Interessen durchzusetzen.

Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Frage, wie der Islam und der Koran das Leben in der islamischen Gesellschaft prägen und das auch im Westen, was zu Konflikten führt. Themen, die unter anderem zur Sprache kommen, sind Homosexualität und Ehrenmord. Die Autorin verweist darauf, dass sich besonders diejenigen sozialen Schichten, denen der Zugang zur Bildung verwehrt bleibt, an die Tradition klammern. Wer Wissen hat, so sagt sie, braucht keine Tradition. Wer wohlhabend ist und Wissen besitzet, hat kein Problem mit den alten Gebräuchen, die Tradition aber ist das Kreuz der Armen. – Sicherlich eine These, die zur Diskussion gestellt werden muss.

Das Buch von Nahed Selim ist eine erfrischende Lektüre und unterscheidet sich definitiv von den meisten derzeit über Frauen im Islam publizierten Werken. Die Autorin tritt für eine zeitgemäße Interpretation des Korans unter Berücksichtigung der heutigen Gesellschaft und Lebensweise ein. Sie kämpft dafür, dass frauenfeindliche Verse des Korans in dieser Weise nicht mehr gelten dürfen und somit auch nicht mehr das Leben von Musliminnen beeinträchtigen. Damit erhebt das Buch hat einen mutigen Anspruch auf eine radikale Neuinterpretation des Islam: Es ist ein Versuch, durch Theologie und Ethik die Grundlage für einen islamischen Feminismus zu schaffen.

Leider fehlt es dem Buch an einigen Stellen an dem Nachweis gesicherter Quellen und damit an genug analytischem Tiefgang, um die Thesen und Appelle aus dem Koran stützen zu können. Die islamische Gesellschaft basiert nun einmal auf dem Koran, den Traditionen und den Aussprüchen Muhammads. Es bleibt auch die Frage, wie Nahed Selim einerseits so konsequent Kritik am Koran als dem Wort Gottes üben und zugleich weiter von der „Weisheit Allahs“ sprechen kann. Nahed Selim möchte unabhängig von der islamischen Geistlichkeit über ihren Glauben bestimmen dürfen. Sie appelliert an ihre Glaubensschwestern, den Koran selbst zu lesen und zu interpretieren. Das Buch ist sehr lesenswert und macht Mut zu einer längst überfälligen Diskussion.