Taliban wollen zurück zum Gottesstaat des Urisal
B O N N (26. Mai 2007) – Mit ihrem jüngsten Selbstmordattentat am 19. Mai 2007, bei dem auch drei Bundeswehrsoldaten ums Leben kamen, unterstrichen die radikalislamischen Taliban unmissverständlich ihren Wunsch nach Wiedererrichtung eines islamischen Gottesstaates am Hindukusch, erklärte Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen der Evangelischen Allianz.
Der arabische Begriff „Taliban“ bedeutet „Student“ oder „Schüler“. Die meisten Taliban wurden in islamistischen Koranschulen (madaris) in den an Afghanistan angrenzenden pakistanischen Provinzen ausgebildet. In diesen Koranschulen sind unterschiedliche ideologische Positionen vorherrschend, in vielen jedoch eine rigide Form des Islam. Mit ihrer Rückbesinnung auf die islamischen Wurzeln des 7. Jahrhunderts und einer wortwörtlichen Auslegung von Koran und Überlieferung verfolgen sie ein ähnliches Konzept wie der Wahhabismus in Saudi-Arabien oder die ägyptischen Muslimbruderschaften. Ihre besondere Prägung haben sie durch die Lehre der islamischen Hochschule Deoband in Indien erhalten. Die Deobandis haben ihre größte Anhängerschaft unter den Pakistanis und fordern unter anderem eine strikte Geschlechtertrennung und die Säuberung des Islams von rituellen Unreinheiten wie der Feier von Mohammads Geburtstag. Im Gegensatz zu den Wahhabiten vertreten sie keinen hanbalitischen Islam, sondern gehören der größten sunnitischen Rechtsschule, den Hanafiten, an. Die radikalislamische Orientierung vermischt sich in der regionalen Praxis unterschiedlich stark mit einem paschtunischen Nationalismus, Ehren- und Rechtskodex.
Kampf gegen jeden Staat ohne islamische Staatsform
Die Taliban hatten nach dem Ende der sowjetischen Besatzung Afghanistans die internen Machtkämpfe zwischen den einzelnen Widerstandsgruppen (Mujahidin) ausgenutzt und mit ausländischer – vor allem pakistanischer, aber auch amerikanischer Unterstützung – innerhalb von zwei Jahren einen Großteil des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Spätestens mit den Anschlägen vom 11. September 2001 erhärtete sich der internationale Vorwurf, dass weltweit operierende Terroristen im Taliban-Regime nicht nur Unterschlupf fanden, sondern auch die notwendige Ideologisierung und Infrastruktur für ihre militärischen Ausbildungslager. Mit Unterstützung einer internationalen Allianz und der UNO begannen die USA 2001 ihren Anti-Terror-Krieg gegen die Taliban. Die internationale Staatengemeinschaft strebt im Rahmen des Wiederaufbaus die Stabilisierung einer demokratischen Republik an – mit islamischer Identität, aber ohne islamische Staatsform. Genau gegen ein solches Konzept von Staat und Religion richten sich die wieder erstarkenden Taliban mit ihren jüngsten Anschlägen.
Zahllose Menschenrechtsverletzungen im Namen des Korans
Bis zur Entmachtung der Taliban durch die Amerikaner 2001/2002 bestimmten strenge Auslegungen des islamischen Gesetzes (Scharia) das gesamte öffentliche und private Leben. Medien wie Fernsehen und Internet waren verboten. Arme und Beine wurden als Strafe für mutmaßliche Verbrechen – mit Berufung auf Koran und Überlieferung – amputiert, Steinigungen bei Anklage wegen Ehebruchs durchgeführt. Männer mit zu kurzen Bärten drohten Prügelstrafen und Inhaftierung. Musik, Tanz und Kino, ja selbst das Drachensteigenlassen für Kinder waren tabu. Mädchen durften nicht mehr zur Schule gehen, Frauen ihre Berufe nicht mehr ausüben. Tausende Witwen mussten auf den Straßen ihren Lebensunterhalt erbetteln, viele erlitten Gewalt durch die örtlichen Machthaber. Aufgrund der strengen Geschlechter- und Kleidervorschriften mussten Frauen sich mit der Burka vollständig verhüllen und durften das Haus nur in Begleitung männlicher Verwandter verlassen. Sie hatten kaum Zugang zu medizinischer Versorgung. Eine ärztliche Behandlung war ohne männlichen Begleiter ebenfalls unmöglich. Die für sie vorgesehenen Krankenhäuser waren zudem mangelhaft ausgestattet. Die behandelnden Ärzte durften den Schleier nicht hochheben und auch die Burka musste während der Behandlung getragen werden. Kontrolleure der Taliban sorgten vor Ort für die Einhaltung der Bestimmung. Ärzten, die sich widersetzten, drohten Berufsverbot und schwere Strafen.
Die Taliban streben nach Eroberung großer Teile des Südens die Wiedereinführung solcher Vorschriften an. Doch nach Berichten afghanischer Frauenrechtlerinnen hat sich die Situation von Frauen bis heute auch dort kaum verbessert, wo die Taliban erfolgreich vertrieben wurden. Die „Revolutionary Association of the Women of Afghanistan“ werfen auch der Nordallianz, mit denen die USA und die NATO beim Kampf gegen die Taliban verbündet sind, Gewaltherrschaft und Unterdrückungspolitik gegenüber Frauen vor. Das Ausmaß täglicher Gewalt sei erschreckend und Vergewaltigung und Zwangsehen nähmen in manchen Gegenden zu. Frauen trügen auch weiter die Burka aus Angst um ihre Sicherheit. Die Lage in Afghanistan ist also von Entspannung, Fortschritt und Demokratisierung noch weit entfernt.
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