Rezension: Hülya Rinscheid. Lebe – Yascha!

Institut für Islamfragen

Hülya Rinscheid, Lebe – Yascha!, R. G. Fischer Verlag, ISBN 3-8301-0787-0, 142 Seiten.

Die Türkei, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Land, tief geprägt von religiösen Riten und Traditionen, das mit dem langsamen Vordringen des säkularen Gedankenguts des Mustafa Kemal zum Sprung in die Moderne ansetzt. Doch während in der Stadt die Reformen bereits deutlich sichtbar sind, verläuft das Leben auf dem Land noch in ganz anderen Bahnen. Wie das konkret aussieht, zu welchen Spannungen der Kampf Tradition gegen Moderne führt und welche Auswirkungen das für das Leben eines einzelnen Mädchens haben kann, beschriebt Hülya Rinscheid eindrücklich in ihrem Buch „Lebe – Yascha!“.

Der Leser taucht ein in den türkischen Alltag, der mit sehr reduzierter Sprache geschildert wird. In dem kleinen Ort Bayirköy, in den die Eltern der Ich-Erzählerin ziehen, nachdem sie aus Griechenland in die Türkei kamen, entfaltet sich das Tableau des Landlebens. Da ist zum Beispiel das Männercafé als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. Es ist Ausdruck des Patriarchats, da es den Männern vorbehalten ist, hier Hochzeiten zu planen, Hauskäufe abzuwickeln, sich bekannt zu machen und stellt für die jungen Männer die Plattform dar, um ins wahre Leben als Mann aufgenommen zu werden. Auch die alten Traditionen finden hier ihren Ausdruck, wenn nach der Geburt eines Sohnes im Männercafé der Beschneider aufgesucht wird oder Gespräche mit dem Imam geführt werden. Dieser ist die Autorität schlechthin bei sämtlichen alltäglichen und religiösen Fragen, seine Lehren wenden sich gegen Atatürk und dessen Ideen, und nur sehr langsam erwächst in der jüngeren Generation eine zunehmende Opposition gegen diese Autorität. Denn nicht zuletzt durch seine Aussagen werden die Argumente zur niedrigeren Stellung der Frau weiter getragen.

„Mach die Frau zu deinem Untertan!“ als ständige Ermahnung sowie abergläubische Drohungen mit der Strafe des Teufels, wenn Mädchen allein auf der Straße unterwegs sind und ähnliche Dinge bestimmen die Haltung der Männer und die Machtlosigkeit der Frauen, da der Imam als religiöse Autorität kaum hinterfragt wird.

Das Leben der Frauen spielt sich im Hintergrund ab, bei ermüdenden, gesellschaftlichen Treffen im Haus. Hier ist die Vorbeterin praktisch das Pendant zum Imam, da sie es ist, die das religiöse Leben der Frauen bestimmt. Bei Gebetsfeiern, der gängigen Praxis, um beispielsweise die Geburt eines Kindes zu feiern, rezitiert sie arabische Gebete, die niemand versteht. Sie fungiert beinahe als eine Handlangerin des Imam; aus ihrem Munde kommen die gleichen Verteufelungen und Lehren, sie verbreitet eine Aura der Angst, Ehrfurcht und Hörigkeit. Gleichzeitig wird an ihr deutlich, dass es für Frauen in geringem Umfang Möglichkeiten der teilweisen Selbstbestimmung über das Leben gibt, denn sie ist Witwe und verdient sich durch ihre Position und den privaten Zuwendungen ihren Lebensunterhalt.

Damit scheint sie gerade das zu leben, was die religiösen Autoritäten besonders angreift: Die zunehmende Selbstständigkeit der Frauen. Diese zeigt sich zunächst in der Existenz einiger Stadtfrauen, die keinen Pürgü (Schleier) tragen, geschminkt, schön und gebildet sind und die einfachen Frauen geradezu verachten.

Doch auch im Dorf malt sich immer mehr ein Umdenken ab. Die Ich-Erzählerin wird mitten in diese Entwicklung hinein geboren, und schon bald entsteht in dem Mädchen der Wunsch, modern und gebildet zu sein. Durch die Reformen, die eine grundlegende Bildung für Mädchen und Jungen gemeinsam praktiziert, besucht sie die Schule und steckt so voller Wissensdrang, dass ihr Lehrer eine weiterführende Bildung befürwortet, damit auch sie Lehrerin werden kann. Doch die allgemeine Weisheit „Bildung bringt Ärger“ ist noch wirksam, und der Zweck der Schule überhaupt für Mädchen will auch der Mutter nicht einleuchten. Selbst der älteste Bruder erhält keine weiterführende Ausbildung. Mit zwölf muss auch sie gegen ihren Willen das Kopftuch tragen, und es wird deutlich, wie sehr dies die Lebensumstände verändert: Nun wird sie direkt auf ein Leben als Hausfrau und Dienerin des Mannes vorbereitet und geradezu abgeschottet von Jungen.

Dagegen erarbeiten sich die Frauen mehr und mehr Unabhängigkeit. Beispiel hierfür ist z.B. die Mutter, die sich traut, mit dem Beschneider allein zu reden, sich heimlich eine finanzielle Geldquelle erarbeitet und sogar heimlich eine Hebamme aufsucht, um eine Abtreibung vorzunehmen. Hier erscheint die Hebamme als Anlaufstelle der Frauen mit ihren Nöten, die aus ihrer Unwissenheit heraus entstehen, was Sexualität und Verhütung anbelangt. Doch wird deutlich, dass dies das Verfahren der alten Generation ist, als der Bruder die Mutter anweist, in Zukunft den Arzt aufzusuchen, da die Hebamme sich auf Halbwissen stütze. Mit zunehmendem Alter der Hauptfigur Yascha (dt.: „Lebe“, daher der Buchtitel) spitzt sich die Hoffnung des Mädchens auf eine Zukunft als gebildete, moderne Frau immer mehr zu.

Das Leben ihrer Mutter lehnt sie offen ab („Ich will nicht so sein wie du!“). Sie versucht, das Kopftuch als Zeichen der Unmodernität abzulegen, erhält dafür aber von ihren Brüdern strenge Verweise. Sie schneidet sich die langen Haare ab, was hingenommen wird. Sie besorgt sich heimlich Kosmetika und Schminke und nimmt eine Freundschaft zu der modernen, gebildeten Zeynab auf. Als ihre Schwester fortläuft und nach eigenem Wunsch und durch die neue Regelung der Zivilehe (womit die Autorität der religiösen Würdenträger gebrochen, das Ende der Polygamie eingeläutet und eine Scheidung nicht mehr ohne weiteres möglich ist) heiratet, scheint das für die ganze Jugend ein Signal zu sein. Zuvor undenkbare Dinge, wie Treffen am Brunnen und Flirtversuche, werden nun immer öffentlicher. So lernt auch Yascha einen modernen jungen Mann aus Istanbul kennen, an dessen Seite sie sich die

Erfüllung all ihrer Träume erhofft. Als sie mit ihm ihr Dorf verlässt und in der großen Stadt Istanbul von ihm neu eingekleidet wird und einen ordentlichen Kurzhaarschnitt bekommt, glaubt sie sich am Ziel. Doch in Gestalt der Amme ihres Mannes trifft sie noch einmal auf Vorurteile und altes Gedankengut. Ihre eigene Unaufgeklärtheit, die trotz allem Streben nach Bildung noch nicht vorhanden ist, führt zum schnellen Anwachsen ihrer Familie, die die finanzielle Not noch verstärkt. Ihr Mann entscheidet sich, nach Deutschland zu gehen, wie sehr viele. Die Abfahrt auf dem Bahnhof, nachdem Yascha nachreisen darf, verunsichert sie; denn bei jenen Frauen, die ebenfalls diese Reise aufnehmen, ist das Kopftuch vorherrschend, und sie fragt sich, ob sie wohl in ein Land reise, in dem auch sie wieder das Tuch tragen müsse.

Mit diesem ungewissen Blick in die Zukunft endet das Buch. Man legt es zur Seite mit dem Gefühl, dass es Geschichten wie diese sind, die hinter all den Einzelfällen stehen, die gerade hier in Deutschland den Gesamtkontext der Integrationsfrage insbesondere von Frauen ausmachen. Ein wertvoller Beitrag also, der zwar keine große Literatur ist, aber vielleicht braucht es Stimmen wie diese und nicht nur große soziologische Analysen, um die Diskussion wach zu halten und zu bereichern.