Rezension: Die dunklen Anfänge

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Eine Rezension über das Buch: Karl-Heinz Ohlig; Gerd-R. Puin (Hg.) Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam. Verlag Hans Schiler: Berlin, 2005, 406 S., 58.00 €.

Über etliche Jahrzehnte hinweg ist innerhalb der Orientalistik wenig grundlegend Neues zur Deutung der Enstehungszeit des Islam vorgeschlagen worden, und das, obwohl viele grundlegende Fragen weitgehend unbeantwortet sind. Eine wissenschaftliche Studie zu dem Problem, wie die heute überall verwendete Standardausgabe des Korantextes von 1924 zustande kam, die die großen Lücken unseres Nichtwissens auch nur einigermaßen schließen könnte, existiert z.B. bis heute nicht. Es ist zwar anhand unserer Wissensgrundlagen von mehreren Rezensionen, von ehemals existierenden Textvarianten oder, wie manche annehmen, sogar von verschiedenen Autoren des Korantextes auszugehen. Insgesamt aber existiert zu diesen eminent wichtigen Fragen kaum Forschungsliteratur: aus muslimischer Sicht deshalb nicht, weil eine historische Beweiskette für die Göttlichkeit des Korans unerheblich wäre. Aus nichtmuslimischer Sicht wäre sie zwar unerlässlich. Da sich aber die Islamwissenschaft der muslimischen Sichtweise vom einmalig unverfälscht erhaltenen Offenbarungstext fast unisono angeschlossen hat, ohne überhaupt das Offensichtliche hinterfragen und erforschen zu wollen – so die Auffassung einiger Autoren dieses Bandes – hat sie sich de facto der politischen Korrektheit und Anpassung an den muslimischen Diskurs ergeben.

In diese lange brachliegende Debatte ist nun Bewegung gekommen: zuerst mit Christoph Luxenbergs Studie „Die syro-aramäische Lesart des Korans“ (20073). Vorherrschende These ist, dass der Schlüssel zum Koranverständnis im Arabisch-Syro-Aramäischen anstatt im Arabischen zu suchen sei und der Koran daher nicht in arabischer Lesart z.B. von „Paradiesjungfrauen“, sondern in aramäischer Lesart lediglich von „weissen Weintrauben“ spräche. Im vorliegenden Band geht es nun in größerem und grundsätzlichem Umfang darum, Altvertrautes neu zu hinterfragen. Unbestreitbarer Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Tatsache, dass die Quellenlage für die Frühzeit des Islam und die Person und das Leben Muhammads mehr als dürftig zu nennen ist. Die Orientalistik verlässt sich hier sehr grundlegend auf die spärlichen und in erheblicher zeitlicher Entfernung zu Muhammads Lebenszeit (570–632 n. Chr.) und ausschließlich von Gefolgsleuten verfassten Biographien Muhammads aus dem 9. und 10. Jahrhundert.

In der von renommierten Orientalisten nun vorgelegten Aufsatzsammlung geht es daher nicht nur um Deutungsvarianten zur Biographie Muhammads und zum Frühislam, sondern um einen grundlegenden Neuentwurf, für den numismatische Zeugnisse und Inschriften (z.B. im Felsendom in Jerusalem) ausgewertet wurden. Die Kernthese lautet, dass wesentliche bisher auf Muhammad gedeuteten schriftliche Zeugnisse vielmehr christliche Texte und Symbole eines syrisch-arabischen Christentums seien und der Name Muhammad (dessen Bedeutung „der Gepriesene“ ist) gar kein Eigenname sei, sondern ursprünglich Jesus meine. Die Autoren schlussfolgern, dass es eine historische Person mit Namen Muhammad, den Verkünder des Islam, nie gegeben habe und der eigentliche „Islam“ nicht vor Mitte des 8. Jahrhunderts entstanden sei. Dann aber müsse der Koran, sofern er vor diesem Zeitraum entstand, ein christlich-liturgisches Werk gewesen sein. (Diese These war in ähnlicher Weise bereits 1974 von Günter Lüling vorgetragen, jedoch kaum von der Wissenschaft rezipiert worden.) Damit gäbe es eine christliche Vorform des Islam unter den – aus Sicht der Autoren – christlich geprägten Umayyaden, der unmittelbarer Vorläufer für den unter den Abbasiden ab 750 aufgekommenen eigentlichen „Islam“ gewesen sei. Es braucht nicht betont zu werden, dass mit dieser These die gesamte Frühgeschichte des Islam in Geschichte und Dogmatik in sich zusammenfällt. Eine spannende Diskussion.