Das türkische Religionspräsidium setzt auf Reform und Abkehr von der Tradition
(Institut für Islamfragen, mk, 17.03.2008) Nach Berichten des Nachrichtensenders BBC-England hat die türkische Religionsbehörde DIB mit einer Neubearbeitung der Hadithe begonnen, den – nach dem Koran – zweitwichtigsten Grundlagentexten des Islam. Die Hadithe überliefern die Verhaltensweisen und Aussprüche Muhammads und seiner ersten Nachfolger. Die sechs anerkannten Hadithsammlungen umfassen rund 12 Textbände. Die theologische Universität „Ankara-Schule“ wendet für die Überarbeitung der Hadithe einige der in westlichen Ländern gängigen textkritischen Methoden an. Anlass für die Bearbeitung ist die Auffassung, dass manche der Hadith-Aussprüche einen eher negativen Einfluss auf die Gesellschaft hätten und aus Sicht der Bearbeiter durchaus auch fragwürdige islamische Verhaltensweisen provozierten.
Bei den Reformbemühungen geht es darum, die Grundlagen des Islam zu fokussieren und sie von traditionellen Interpretationen zu befreien. Der Berater des Projekts, Felix Körner, sagte, dass viele der Hadithe erst mehrere Hundert Jahre nach Muhammad ihm angedichtet wurden. Ziel der Hadith-Erzählungen war, der damaligen Gesellschaft zu dienen. Heute sähe manches etwas anders aus. So könnte man leider mit manchen der Hadithe sogar die Genitalverstümmelung der Frauen rechtfertigen. Die Herkunft solcher Hadithe sei allerdings mehr als zweifelhaft, sie seien offensichtlich eine Projektion in den Islam.
Selbst Aussagen, von denen man bisher annahm, dass sie Muhammad mit Sicherheit gemacht habe, werden neu interpretiert. Prof. Mehmet Görmez, ehemaliger Beamter der DIB, führt dazu als Beispiel Hadithe an, die verbieten, dass Frauen alleine, ohne ihre Ehemänner, mehr als drei Tage verreisen. Laut Görmez befürwortete Muhammad laut anderslautender Aussagen in anderen Hadithen jedoch durchaus, dass Frauen längere Distanzen alleine reisen könnten. Damals sei das leider wegen den Gefahren nicht möglich gewesen. Es handele sich also lediglich um eine temporäre Anweisung, die man nicht verallgemeinern dürfe. Heute sei dieses Verbot daher nicht mehr gültig.
Die Türkei schulte bisher 450 Frauen als Predigerinnen des Islam. Hülya Koc ist eine von ihnen. Sie kritisiert die Unterdrückung der Frau als ebenso unislamisch wie Ehrenmorde. Auch sexuelle Belästigungen innerhalb der Familien seien völlig unislamisch.
Doch die „Ankara-Schule“ geht noch weiter: Bisher galt als eins der allgemein anerkannten Auslegungsprinzipien des Korans, dass früher offenbarte (eher den Frieden propagierende) Korantexte durch anderalautende spätere (eher zum Kampf aufrufende) Korantexte aufgehoben werden. Man könne laut Fadi Hakura, Experte für die Türkei im „Chatham House“ in London, nicht sagen, dass die Verse, die zur Gewalt aufrufen, die Verse aufheben, die zum Frieden mahnen. Es gehe vielmehr darum, den Gesamtzusammenhang der Texte zu erkennen.
Quelle: news.bbc.co.uk/2/hi/europe/7264903.stm
Kommentar: Hier bahnen sich grundlegende Neuentwicklungen an. Es werden hier Themenbereiche zur Diskussion gestellt – wie die in den Hadithen thematisierte unantastbare Vorbildhaftigkeit Muhammads – die in der offziellen muslimischen Theologie bisher zu großen Teilen als sakrosankt galten. Schon jetzt ist klar, dass viele der mutig gestellten Fragen und neuen Antworten für den klassisch-arabischen Islam mindestens revolutionär oder sogar ein Zeichen für Glaubensabfall sein werden. Man darf auf die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse gespannt sein.