Pressemitteilung anlässlich der jüngsten Entwicklungen im Iran

Institut für Islamfragen

Islamwissenschaftlerin: Iranisch-schiitische Theologie und real existierender Islam im Widerspruch

B O N N (23. Juni 2009) – Eine der Ursachen für die anhaltend starken Proteste im Iran gegen die politische und geistliche Führung des Landes könnte nach Einschätzung der Islamwissenschaftlerin Prof. Christine Schirrmacher vom Institut für Islamfragen der Evangelischen Allianz außer in den Protesten gegen Wahlmanipulation und Machtmissbrauch in der traditionell-historischen innerschiitischen Debatte um die Legitimität politischer Herrschaft liegen. Für die Schiiten gilt im Gegensatz zu den Sunniten erst der vierte der so genannten rechtgeleiteten Kalifen, Ali, als rechtmäßiger Nachfolger Mohammeds und Herrscher der Gläubigen. Ihm folgten nach Auffassung der Zwölferschia elf weitere Imame als einzige Berechtigte zur religiös legitimierten Herrschaft. Die Schiiten glauben, dass der zwölfte und letzte Imam nicht gestorben ist, sondern sich in der so genannten Verborgenheit befindet und eines Tages als eine Art Erlöser (Mahdi) wiederkehrt, um die Herrschaft der Tyrannen zu beenden und Gerechtigkeit aufzurichten. Die Mahdi-Lehre steht im engen Zusammenhang mit der jahrhundertelangen schiitischen Erfahrung der Unterlegenheit und Aussichtslosigkeit auf politische Herrschaft gegenüber der jeweiligen sunnitischen Mehrheit. So haben die Schiiten ab dem 10. Jahrhundert die sunnitische Herrschaft zwar als unrechtmäßig verurteilt, ihren Herrschaftsanspruch ansonsten jedoch mit Verweis auf den verborgenen Mahdi auf den geistlichen Bereich beschränkt. Als Minderheit wurden sie zumeist unter sunnitisch dominierter Herrschaft benachteiligt oder gar verfolgt. Sofern sie öffentlich wirksam wurden, sahen sie sich nicht selten zum durchaus auch religiös legitimierten Verschweigen ihrer eigentlichen Identität (taqiyya) gezwungen. Gegen diese politische Passivität wandte sich vor allem der iranische Gelehrte und spätere Revolutionsführer Ayatollah Khomeini (1902-1989) mit seinem Ruf nach Aufrichtung eines Gottesstaates im mehrheitlich schiitischen Iran.

Khomeini wollte „islamischen Weltstaat der allgemeinen Gerechtigkeit“

Bereits zur Zeit seines Exils im irakischen Nadschaf fragte er Anfang der Siebziger in seinem einflussreichsten Werk „Der islamische Staat“ (Hokumat-i islami), ob für die Zeit der Verborgenheit des zwölften Imams

„nicht diejenigen Kriterien für die Regierungsfähigkeit gelten, die vom Urislam an bis in die Zeit des Wirkens des Imams der Zeit gültig waren“.

Für ihn sind diese Kriterien die „Kenntnis des [als ewig gültig angesehenen islamischen] Gesetzes“ und der „Sinn für Gerechtigkeit“ in dessen konkreter Anwendung. Da viele Rechtsgelehrte diese Bedingungen erfüllten, seien sie bei einer Einigung auf einen Führer in der Lage, „einen islamischen Weltstaat der allgemeinen Gerechtigkeit“ zu schaffen, so Khomeini. Der islamische Staat ist für ihn ein Staat des Gesetzes, in dem die Souveränität einzig und allein Gott gehört. Die Gesetze des Staates werden aus dieser Perspektive zum unmittelbaren Befehl Gottes. Weitere Passagen aus Khomeinis Aufruf zur islamischen Revolution lesen sich wie eine Beschreibung der derzeitigen Proteste – nur mit umgekehrten Vorzeichen:

„Das Volk ist wegen seiner Lage unruhig und unzufrieden. Doch unter den Bajonetten, in einer Atmosphäre der Unterdrückung können die Menschen sich nicht äußern. Die [Menschen] wünschen aber, dass jemand aufsteht und furchtlos alles ausspricht.“

In „Der islamische Staat“ ruft Khomeini alle Schichten und Gruppen der Gesellschaft von den Arbeitern und Bauern bis hin zu den Studenten zum entschiedenen Kampf für die Freiheit, Unabhängigkeit und „das Glück des Volkes“ auf. Mithilfe des Islam und der „Schule des Heiligen Krieges“ sollte der „tyrannische“ und „kolonialistische“ politische Apparat des Schah-Regimes zerschlagen und der islamische Staat errichtet werden. Von seinem Pariser Exil aus gelang es Khomeini 1978/79, sich endgültig an die Spitze der nationalen Widerstandsbewegung zu stellen und den zunächst von ganz unterschiedlich motivierten Gesellschaftsgruppen getragenen Widerstand gegen das Schah-Regime in eine islamische Revolution zu verwandeln. Den 1. April 1979 erklärte Khomeini im Rahmen seiner Proklamation der Islamischen Republik Iran zum „ersten Tag der Herrschaft Gottes“ auf Erden.

Zunehmender Protest gegen Chamenei offenbart Zweifel am System

Die derzeitigen Unruhen verdeutlichen aus Sicht Schirrmachers die zunehmenden Zweifel innerhalb der iranischen Bevölkerung an Khomeinis Konzept von der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“. Die Kritik richtet sich dabei immer stärker auch gegen den entsprechend der iranischen Verfassung beinahe übermächtigen Nachfolger Khomeinis, den Revolutionswächter Ayatollah Ali Chamenei. Der oberste Mullah des Landes und das de facto gleichzeitige iranische Staatsoberhaupt genießt demnach eine beinahe unbeschränkte Machtfülle. Vom Expertenrat ist er selbst auf Lebenszeit gewählt. Der jeweilige Staatspräsident und Regierungschef muss von ihm bestätigt werden und kann de facto nicht ohne Übereinstimmung mit ihm regieren. Er bestimmt die Richtlinien der Politik und ernennt sechs der zwölf Mitglieder des Wächterrates, der wiederum alle vom Parlament verabschiedeten Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit den Normen der Scharia prüft und zudem ein Vetorecht bei den jeweiligen Kandidaten für das Parlament bei Zweifeln an deren Verfassungstreue hat. Das ermöglicht dem religiösen Establishment bereits im Vorfeld der Wahlen die frühzeitige Ausschaltung solcher Kandidaten, die mit ihren Reformkonzepten eine Bedrohung der eigenen Machtposition der Mullahs oder ihrer religiös-politischen Grundüberzeugungen darstellen könnten. Darüber hinaus kontrolliert Chamenei als Revolutionswächter die Justiz, die Geheimdienste, die Streitkräfte, die staatlichen Medien und die religiösen Stiftungen. Eine Gewaltenteilung ist ausgeschlossen. Auf dem Hintergrund dieser Machtfülle sind nach Schirrmacher auch seine jüngsten Drohungen für den Fall weiterer „illegaler“ Demonstrationen zu sehen. Chamenei hatte die Wahlen bei seiner Freitagspredigt noch als „großartiges Beispiel […] für das Funktionieren der Demokratie“ beschrieben und die eigentliche Schuld an den Unruhen und Demonstrationen den äußeren „Feinden“ des Regimes zugeschrieben. Laut Schirrmacher könnte die immer offensichtlichere Politik der persönlichen Machterhaltung des Mullahs für die schiitische Bevölkerung ein umso stärkeres Argument für eine Rückbesinnung auf die traditionelle schiitische Zurückhaltung gegenüber religiös legitimierter politischer Herrschaft darstellen oder aber in Bezug auf den nicht religiös orientierten Teil der iranischen Bevölkerung eine grundsätzliche Ablehnung religiös begründeter Herrschaft.

Zum freien Abdruck, auch einzeln und auszugsweise – Belegexemplar erbeten.