Pressemitteilung anlässlich eines Interviews mit Tariq Ramadan vom 20. Mai 2009

Institut für Islamfragen

Integration als Anpassung Europas an islamische Werte

B O N N (29. Mai 2009) – Wenn Tariq Ramadan, dem Schweizer Islamwissenschaftler ägyptischer Herkunft, im Internetportal qantara ein „modernes Glaubensverständnis auf der Grundlage einer Trennung von Staat und Kirche“1 zugeschrieben wird, sollte man nach Einschätzung der Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Schirrmacher vom Institut für Islamfragen der Deutschen Evangelischen Allianz auf die genaue Bedeutung der einzelnen Schlüsselbegriffe und Schlagwörter achten, um das Islamverständnis Ramadans besser in seinen Gesamtkontext einzuordnen. Integration bedeute bei Ramadan beispielsweise nicht primär Integration der Muslime in die europäischen Gesellschaften, sondern in erster Linie Anpassung Europas an islamische Werte, erklärte Schirrmacher anlässlich eines Interviews, das Ramadan am 20.5.2009 dem Internetportal qantara gegeben hatte. In einem Artikel auf seiner persönlichen Webseite erklärte er im April 2008: „Integration ist ein Konzept aus der Vergangenheit. Einbringung ist das Konzept der Zukunft“2. Im Rahmen seines Eintretens für islamische Werte in Europa benutzt Ramadan daher nicht mehr die klassische Bezeichnung Europas als „Gebiet des Unglaubens“ oder „Gebiet des Krieges“, sondern wählt stattdessen den Begriff vom „Gebiet des [islamischen] Glaubenszeugnisses“3.

Die Scharia als „ethische Vision“: Säkularisierung des Islam ausgeschlossen

In seinem Interview mit qantara machte Ramadan deutlich, dass er keine eigene europäische islamische Theologie entwerfen wolle. „Mit Euro-Islam habe ich nichts zu tun“ erklärte Ramadan und distanzierte sich zugleich von den Forderungen Bassam Tibis nach einer Trennung vom politischen Erbe des Islam. Die Trennung der katholischen Kirche vom Staat sei ein wichtiger Schritt gewesen, so Ramdan gegenüber qantara. In der islamischen Welt sei der Begriff der Säkularisierung jedoch zu sehr „mit Kolonisierung und Diktatur verbunden“, um positiv besetzt zu sein. In seinem Buch „Der Islam und der Westen“ schreibt er zur westlichen Entwicklung: „Der Prozess der Säkularisierung befreite nicht nur die Gesellschaft von der Herrschaft der Religion, sondern führte zu einer Infragestellung der Grundlagen der Moral.“4 Damit steht die Säkularisierung zwangsläufig im Gegensatz zum islamischen Recht (Scharia). Gegenüber qantara beschrieb Ramadan die Scharia als „ethische Vision“ und „islamische Ethik“, die bedeute, „dass man „bestimmte Werte umsetzen“ wolle. Ihr Anspruch sei vergleichbar mit dem der Verfassung und den Gesetzen Europas. Zugleich ist Ramadan gegenüber qantara um einen moderaten Eindruck bemüht und betont, dass viele der ethischen Errungenschaften im Islam und im Westen gleich sein. Man dürfe sie nicht gegenüberstellen. Genau das tut Ramadan aber an anderer Stelle in aller Schärfe.

Westliche Kultur des Zweifels erscheint als gottlos, dekadent und materialistisch

In „Der Islam und der Westen“ stellt Ramadan die westliche und die islamische Kultur in scharfen Kontrast zueinander. So stütze sich die westliche Lebensweise auf „die Verführung zur Aufstachelung der natürlichsten und primitivsten Instinkte des Menschen: sozialer Erfolg, Wille zur Macht, Drang zur Freiheit, Liebe zum Besitz, sexuelles Bedürfnis“. Während sich also nach seiner Darstellung im Westen eine gottlose Kultur des Zweifels durchgesetzt und zur Säkularisierung geführt habe, herrscht nach Ramadans Weltbild im Islam die perfekte Harmonie zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung. Der Mensch wurde aus dieser Sicht als islamisch Gläubiger geschaffen und muss eigentlich mit Mitteln des Verstandes die Zeichen Gottes erkennen und seine Offenbarung bestätigen.

Der Berliner Islamwissenschaftler Ralph Ghadban hat in einer Studie über „Tariq Ramdan und die Islamisierung Europas“ von 2006 ausführlich dargelegt, dass dieser den freien Gebrauch der Vernunft strikt ablehnt. Kritisch-aufklärerische islamische Denker wie der arabisch-spanische Philosoph Averroes (Ibn Rushd) aus dem 12. Jahrhundert oder Vertreter der „nahda“ des 19. Jahrhunderts, die eine Wiederbelebung der Vernunft und der islamischen Theologie anstrebten,werden laut Ghadban in Ramadans Entwurf islamischer Philosophiegeschichte einfach ausgeblendet. Stattdessen gehe Ramadan von einem ewig gültigen „islamischen Universum der Referenzen“ aus. Das bedeutet in der Praxis zunächst, dass Ramadan alle neuen westlichen) Errungenschaften, die den islamischen Prinzipien nicht widersprechen, als islamisch deklarieren kann. Auf der anderen Seite ist für ihn damit alles nicht Islamische grundsätzlich abzulehnen. Westliche Menschenrechtserklärungen und Verfassungen akzeptiert Ramadan laut Ghadban  nur auf der Basis des islamischen Rechts. Sie erscheinen bei ihm als Verträge, was letztlich bedeutet, dass sie nur eine vorübergehende Geltung entfalten und schrittweise durch die „islamische Vision“ der Scharia ersetzt werden können, wo sie dieser widersprechen.

Aktualisierung der Scharia: Moratorium für Steinigung von Ehebrecherinnen

Am 20.11.2003 forderte Ramadan in einer Diskussion im französischen Fernsehen mit dem damaligen Innenminister und heutigen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zum Thema „Dieu et la République“ ein Moratorium für Steinigungen von Ehebrecherinnen, statt die entsprechende Bestimmung der Scharia grundsätzlich zu verurteilen.

Gegenüber qantara forderte er zwar einerseits die finanzielle Entschädigung und Unterstützung allein erziehender Frauen. Andererseits verteidigte er die koranische Bestimmung, nach der Frauen nur die Hälfte des männlichen Anteils erben, mit Hinweis auf das islamische Ideal der Familie, das auf Stabilität und Gerechtigkeit ausgerichtet sei, was als implizite Kritik an der gleichberechtigten Erbregelung westlicher Länder gewertet werden kann, auf jeden Fall aberals Unverzichtbarkeitserklärung dieser Scharianorm. Die Erbregelung ist aus dieser Perspektive allein deshalb gerecht, weil der Koran sie so festgelegt hat.

Nach Ghadban geht es Ramadan um eine „Aktualisierung der ewig gültigen Scharia“ und deren „Anpassung an die jeweiligen kontextuellen Gegebenheiten“, nicht um ihre Außerkraftsetzung durch aufklärerische oder liberale Ansätze. Wie Ramadan gegenüber qantara erklärte, will er die „Gelehrten des Textes [gemeint sind Koran und islamische Überlieferung] und die Gelehrten des Kontextes zusammen bringen“, um eine „Methodologie für die Welt von heute“ zu entwerfen. Die Strategie der Kontextualisierung in Verbindung mit seiner eigenen Interkulturalität wird auch in der apologetisch motivierten Umdeutung islamischer Konzepte deutlich. Der Jihad erscheinthier als „Befreiungskampf“, das Kopftuch als „Ausdruck der Emanzipation” und die „Kritik an der Dekadenz des Westens“ als „anti-imperialistisch“, so Ghadban. Damit findet Ramadan Verständnis und Zustimmung bei völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen, die seine teilweise mehrdeutigen oder widersprüchlichen Statements oft losgelöst von seinenAuffassungen zu Scharia und Islam wahrnehmen. Gleichzeitig wird er von denen, die sich für die Scharia auch in Europa verwenden, gut verstanden als jemand, der keinen säkularisierten Euro-Islam favorisiert.

In der Tradition der Muslimbrüder: Schrittweiser gesellschaftlicher Umbau von innen

Damit ist Ramadan ganz in der Gedankenwelt der Muslimbruderschaft zu Hause, die sein Großvater Hassanal-Banna 1928 in Ägypten gründete. Kennzeichnend für die heute weltweit operierenden und vernetzten Muslimbrüder ist die Vorstellung, dass alle gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme auf eine mangelhafte Umsetzung des Islam zurückzuführen sind. Daher streben sie ein islamisches Erwachen in allen gesellschaftlichen Bereichen und Gruppen an und verbinden religiöse Unterweisung und Erziehung mit Sozialarbeit, Wohlfahrt und wirtschaftlicher Förderung ihrer Mitglieder. In Jordanien stellen sie sogar eine einflussreiche Fraktion im Parlament. Während der größte Teil der Bewegung den schrittweisen Umbau ihrer jeweiligen Gesellschaften von innen und von unten dem gewaltsamen Umsturz vorziehen, haben sie dennoch radikalen und militanten Gruppen wie al-Qaida den ideologischen Boden bereitet.

Zum freien Abdruck, auch einzeln und auszugsweise – Belegexemplar erbeten.


  1. Siehe das Interview: de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/_nr-1037/i.html. 

  2. Siehe www.tariqramadan.com/spip.php?article1441. 

  3. Siehe Tariq Ramadan, Western Muslims and the Future of Islam, Oxford 2004², S. 208ff. 

  4. Tariq Ramadan, Der Islam und der Westen, Köln 2000, S. 290. 5 Der Islam und der Westen, S. 319.