Libyen: Vom Regen in die Traufe? Islamistische und jihadistische Kräfte unter den libyschen Rebellen hoffen auf Rückkehr zum „wahrhaft“ islamischen Staat
B O N N (31. März 2011) Werden sich die Hoffnungen des libyschen Volkes und des Westens auf Rechtsstaat und Zivilgesellschaft erfüllen oder werden diese Hoffnungen bitter enttäuscht werden? Von der derzeit diffusen politischen Situation können auch islamistische und jihadistische Kräfte unter den Aufständischen profitieren, erklärte der Islamwissenschaftler Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen. Gerade im Osten des Landes sind zahlreiche islamistische Gruppen aktiv. Für sie stehe schon seit Jahrzehnten fest, dass Gaddafi ein Häretiker sei und der Aufrichtung eines „wahrhaft“ islamischen Staates auf Grundlage der Scharia mit seiner eigenwilligen Islam-Interpretation im Wege stehe. Unter Gaddafi hatten muslimische Extremisten keine Chance, ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Für ihn waren sie selbsternannte „Wächter der Religion“, eine „religiöse Mafia“ zur „Vereinnahmung der Politik“, „politisch Kranke“ und „Schädlinge des Volkes“. Er setzte sich für die Entmachtung der islamischen Rechtsgelehrten ein und ließ zahlreiche Imame zur „Reinigung der Häuser Gottes“ verhaften. Jetzt halten die muslimischen Extremisten ihre Zeit für gekommen. Gunnar Heinsohn, Autor der ersten Genozid-Enzyklopädie, wies kürzlich in der FAZ darauf hin, dass die Rebellen die Menschenrechte nicht unbedingt mehr respektieren als Gaddafi.
Gaddafis frühe Islamisierungsmaßnahmen und seine Hoffnung auf ein islamisches Europa
Die Stellung des Islam hatte unter Gaddafi stets einen ambivalenten Charakter. Seit seinem erfolgreichen Militärputsch 1969 bemühte er sich um eine religiöse Legitimation seiner Herrschaft in einer stark arabisch-islamisch geprägten Kultur. In Anspielung auf Abraham und einen Vers aus dem Koran verkündete er nach der Machtergreifung: „Mit einem einzigen Vorstoß deiner heroischen Armee sind die Götzen gefallen und die falschen Götter zerstört worden.“ In den ersten Jahren leitete Gaddafi verschiedene Maßnahmen gegen die Verwestlichung und zur Islamisierung des gesellschaftlichen Lebens ein. Dazu gehörten unter anderem das Alkoholverbot, die Schließung von Nachtlokalen, das Verbot lateinischer Schrift, der ausschließliche Gebrauch des islamischen Kalenders, die Umwandlung von Kirchen in Moscheen und das Verbot von Glücksspiel und Prostitution. 1971 berief Gaddafi sogar ein Komitee zur Revision der Gesetzgebung „im Lichte der Scharia“ ein. Die Arbeit des später aufgelösten Komitees blieb jedoch ohne praktische Konsequenzen. Zugleich setzt sich Gaddafi seit Anfang der 1970er Jahre über die von ihm gegründete World Islamic Call Society (WICS) für eine weltweite Vorherrschaft des Islam ein und investierte dafür unter anderem in den Bau repräsentativer Moscheen in afrikanischen Städten. Darüber hinaus sieht er Anzeichen für eine bevorstehende islamische Eroberung Europas – ohne Schwerter und Kanonen.
Gaddafis Revolutionsprogramm als das „neue Evangelium der Massen“
Auf der anderen Seite ging es Gaddafi von Anfang an um einen säkularen Staat unter seiner Führung. In seinem „Grünen Buch“ beschrieb er in den 1970er Jahren seine „Dritte Universale Theorie“, in der er die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Eckpfeiler seines Revolutionsprogramms darlegte. Wie der ägyptische Präsident Nasser vor ihm, legte Gaddafi den Schwerpunkt auf Nationalismus und Sozialismus. Vom Islam und seinen Rechtsbestimmungen war dort keine Rede. Gaddafi selbst ließ sich von seinem Hofmusiker Muhammad Hassan als „Gesandten der arabischen Wüste“ besingen und beschrieb sein „Grünes Buch“ als „Leitfaden zur Emanzipation des Menschen“ und „das neue Evangelium der Massen“. Es sei das einzige, was die Dritte Welt brauche, um sich selbst zu verteidigen.
Gaddafi: Nur Koran gültig, Überlieferung und Rechtsgelehrte überflüssig
Schon wenige Jahre nach Gaddafis Machtübernahme verschlechterten sich seine Beziehungen zur muslimischen Orthodoxie zunehmend. Gaddafi propagierte die Rückkehr zum reinen Ur-Islam. Er beschrieb den Koran als „Essenz des Islam“ und alleiniges „Gesetz der Gesellschaft“. Die islamischen Überlieferungen (Hadithe) über die vorbildliche Lebensweise (sunna) Muhammads und seiner Gefährten seien auch aufgrund ihres umstrittenen Zustandekommens zweitrangig und nicht mehr und nicht religiöser als das Römische Recht oder der Code Napoléon. Gelehrte, die die Überlieferung praktisch auf eine Stufe mit dem Koran stellen, begehen aus Sicht Gaddafis die schlimmste Sünde des Götzendienstes (schirk). Gaddafi machte zudem die Rechtsschulen für die Spaltung der Muslime verantwortlich und setzte sich schon früh für die Entmachtung der Rechtsgelehrten ein: „Der Koran ist in arabischer Sprache verfasst, wir können ihn folglich alle verstehen, ohne dass wir einen Imam brauchen, der ihn uns erläutert.“ Seit Ende der 1970er Jahre ließ Gaddafi in mehreren Kampagnen zur „Reinigung der Häuser Gottes“ zahlreiche Imame verhaften. Er sieht im sog. Ijtihad (der selbständigen Rechtsfindung) die Möglichkeit, den Islam unabhängig von den traditionellen Rechtsschulen im Sinne seiner revolutionären Ambitionen neu zu interpretieren. Vor allem in Saudi-Arabien und anderen Zentren islamischer Gelehrsamkeit wurde heftig gegen diese religiösen Neuerungen protestiert und Gaddafi Häresie vorgeworfen.
Gaddafis Kampf gegen die Islamisten als selbsternannte
„Wächter der Religion“
Neben den religiösen Gelehrten waren es vor allem die islamistischen Gruppierungen, die Gaddafi als Gefahr für die ungehinderte Umsetzung seines Revolutionsprogramms ausmachte. Bereits in einer Rede von 1973 kündigte er die „Säuberung des Landes von den politisch Kranken“ an. Damit waren vor allem die libysche Muslimbruderschaft und die „Islamische Befreiungsfront“ gemeint, die er als „Schädlinge des Volkes“ beschrieb. Ende der 1970er Jahre wurde im Zuge der islamischen Erweckung auch in Libyen die Bevölkerung zunehmend für den politischen Islam sensibilisiert. Im April 1989 schossen Islamisten auf Moscheebesucher in Benghazi, Misurata und Adjabiya, weil diese der offiziellen, d.h. Gaddafis Islamversion folgten und daher von den Islamisten als „Häretiker“ angesehen wurden. Gaddafi beschrieb seit 1989 in mehr als 40 Reden die „Tendenz“ der „religiösen Mafia“ zur „Vereinnahmung der Politik“ und rief am 19. Juli 1990 sogar ausdrücklich zu ihrer Tötung auf, da sie als selbsternannte „Wächter der Religion“ Muslime des Unglaubens bezichtigen und damit den Islam von innen her zerstören würden. Mitte der 1990er Jahre scheiterte ein Versuch der aus Afghanistan zurückgekehrten libyschen Islamisten, in Ostlibyen einen islamischen Staat auf Grundlage der Scharia zu errichten. Zur staatlichen Strategie der Eindämmung islamistischer Einflüsse gehörte jedoch auch die Einführung weiterer Scharia-Vorschriften wie die Vergeltung von Bluttaten und entsprechende Strafen für Raub und Diebstahl.
Zahlreiche Jihadisten und al-Qaida-Kämpfer heute unter den Rebellen
Viele dieser Islamisten und Jihadisten kämpfen derzeit auch in den Reihen der Rebellen. Yusuf al-Qaradawi, der inoffizielle Chefideologe der Muslimbruderschaft, erließ sogar eigens ein Rechtsgutachten, in dem er zur Tötung Gaddafis aufrief. Auch al-Qaida-Führer forderten zuletzt die Unterstützung der Rebellen – natürlich mit dem erklärten Ziel, damit den Boden für einen „wahrhaft“ islamischen Staat zu bereiten. Erst vor kurzem hatte der libysche Rebellenführer Abdel Hakim al-Hasidi gegenüber einer italienischen Zeitung zugegeben, dass zahlreiche Rebellen vor einigen Jahren noch gegen die alliierten Truppen im Irak gekämpft hätten. Die meisten Kämpfer dort kamen damals aus Saudi-Arabien und Libyen. Auch Mitglieder der al-Qaida kämpfen nach al-Hasidis Angaben derzeit als „Patrioten und gute Muslime“ in den Reihen der Aufständischen. Al-Hasidi war selber als Mujahidin am Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan beteiligt und steht nach Informationen aus amerikanischen und britischen Regierungskreisen der Libyan Islamic Fighting Groupe (LIFG) nahe, die zuletzt eng mit al-Qaida kooperiert haben soll. Die LIFG setzt sich seit 1995 für die Errichtung eines islamischen Staates auf Grundlage der Scharia ein. Nachdem ein Attentatsversuch 1996 gescheitert war, hatte Gaddafi die Maßnahmen gegen die LIFG verschärft.
Angesichts der Geschichte und ideologischen Ausrichtung der islamistischen Rebellen fordert Polanz einen differenzierten Umgang mit dem Begriff des libyschen „Freiheitskämpfers“. Es ist vor allem der Wunsch nach einer Befreiung von der Gaddafi-Diktatur, der die Rebellen derzeit eint. Nach einem möglichen Sturz Gaddafis könne allerdings schnell deutlich werden, dass die verschiedenen Rebellen ganz unterschiedliche Erwartungen mit dem Begriff der Freiheit verbinden und nicht wenige der Beteiligten sich Freiheit auch zukünftig nur im Rahmen der Scharia vorstellen können.
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