Darf ein anderes Gesetz außer Allahs Gesetz (arab. Shari’a) eingehalten werden?

Institut für Islamfragen

Rechtsgutachter: Abdul-Aziz b. Abdullah bin Baz, der u.a. stellvertretender Direktor der Islamischen Universität von Medina und bis zu seinem Tod 1999 Großmufti Saudi-Arabiens war und sich vehement für eine grundlegende Islamisierung der saudischen Gesellschaft einsetzte.

(Institut für Islamfragen, dh, 30.01.2018)

Frage:

„Werden Machthaber, die nach einem Gesetz regieren, das sich von Allahs Gesetz (arab. Shari’a) unterscheidet, als Ungläubige betrachtet? Falls wir sie als Muslime betrachten, wie würden wir dann Allahs Aussage verstehen: ‚Wer sein Leben (und seine Urteile) nicht nach der Offenbarung Allahs und nach dem, was er herabsandte, richtet, der gehört zu den Ungläubigen.‘ (Sure 5,44)?“

Antwort:

„Diejenigen, die nach einem anderen Gesetz als Allahs Gesetz handeln, weil sie dieses andere Gesetz für besser halten als das Gesetz Allahs, gelten bei allen Muslimen als Ungläubige. Das Gleiche gilt für diejenigen, die nach weltlichen Gesetzen statt nach Allahs Gesetz handeln und dieses weltliche Gesetz für erlaubt halten. Es ändert auch nichts daran, wenn diese Machthaber einräumen würden, dass Allahs Gesetz besser als die weltlichen Gesetze ist. Denn sie haben das, was Allah verboten hat, für erlaubt gehalten.

Derjenige, der nach einem anderen Gesetz und nicht nach Allahs Gesetz handelt, sei es aus Lust und Laune oder weil er bestochen wurde oder weil er denjenigen hasst, über den er zu urteilen hat oder aus anderen Gründen, aber dabei weiß, dass er damit Allah gegenüber ungehorsam wird, und dass er eigentlich nach Allahs Gesetz handeln müsste, gilt dann als jemand, der eine große Sünde begangen hat.“

Quelle: https://www.binbaz.org.sa/fatawa/134

Kommentar (cp): Solche über das Internet weltweit verbreitete Rechtsgutachten derart einflussreicher islamischer Gelehrter wie Ibn Baz haben in den letzten Jahrzehnten wesentlich zur Radikalisierung des islamischen Diskurses beigetragen und den ideologischen Nährboden für islamistische Terrorgruppen wie den so genannten „Islamischen Staat“ (IS) geschaffen. Diese betrachten mit Verweis auf Sure 5,44 alle politisch andersdenkenden Muslime (insbesondere solche in Machtpositionen) als Apostaten, die vom „wahren Islam“ abgefallen sind und im Falle der Unbußfertigkeit mit dem Tod bestraft werden müssen. Über 120 muslimische Gelehrte haben 2014 in einem offenen Brief an den selbst ernannten Kalifen des IS, Abu Bakr al-Baghdadi (1971–2019), versucht, Sure 5,44ff. durch die Unterscheidung unterschiedlich schwerwiegender Formen des Unglaubens zu relativieren und es für verboten erklärt, „sich [eigenmächtig und gewaltsam] gegen einen Herrscher aufzulehnen, auch wenn er die Scharia oder einen Teil von ihr nicht umsetzt.“ Eine grundsätzliche Absage an die Todesstrafe für Apostaten, die sich eines sog. offenkundigen Unglaubens schuldig machen, sucht man allerdings auch bei diesen Gelehrten vergeblich. Siehe hierzu: http://madrasah.de/leseecke/islam-allgemein/offener-brief-al-baghdadi-und-isis (v.a. Punkt 22).

Bitte beachten Sie, dass die (auszugsweise) Übersetzung derartiger Rechtsgutachten der Darstellung und kritischen Auseinandersetzung mit Verlautbarungen von islamischen Meinungsführern und einflussreichen rechtswissenschaftlichen Gremien dienen und keineswegs die Meinung der Internetseitenbetreiber wiedergibt.